Vor gut einem halben Jahrhundert erregte sich die junge westdeutsche Bundesrepublik über eine neue Jugendszene: die Halbstarken. Ohne dass es den Zeitgenossen damals bewusst war, markierte das Halbstarkentum eine sozialkulturelle Zäsur. Denn mit dem Halbstarken begann eine fortan robuste Allianz von Jugendlichen, Massenkulturen und Kommerzialität, überdies: Von gewinnorientierten Medien und kalkulierten Tabubrüchen.
Ein entscheidender Katalysator für die Welle von Halbstarkenauftritte war der Film „Außer Rand und Band“. Der Held in diesem Film war Bill Haley; zu Hymnen der neuen Jugendkulturen avancierten „Rock Around the Clock“ und „See You Later Alligator“. Von Mannheim über Essen und Hannover bis Berlin erlebte die westdeutsche Gesellschaft seinerzeit das immer gleiche Spektakel: Männliche Jugendliche meist im Alter von 16 oder 17 Jahren kletterten während der Filmvorführung auf die Bestuhlung, johlten, pfiffen und schrieen, nahmen das Mobiliar auseinander, blockierten nach Ende des Films die Straßen der Innenstädte – und lieferten sich Schlachten mit der Polizei. Die nach Krisen und Kriegen immer noch ruhebedürftige bundesdeutsche Gesellschaft reagierte empört, ja aufgebracht.
Doch auch jenseits musikalischer und cineastischer Großereignisse blieb das Halbstarkentum während der folgenden Jahre ein Teil der Alltagskultur zumeist ungelernter Arbeiterjugendlicher. Diese standen mit Transistorradios an Straßenecken, verbrachten ihre Zeit auf Rummelplätzen bevorzugt am Autoscooter, belästigten gleichaltrige Mädchen mit machohaften Sprüchen, zerrten Wäsche von den Leinen, klingelten Familien spätabends aus dem Schlaf. Ihr Dresscode waren „Nietenhosen“, die Lederjacke, das oben offene Hemd und der obligatorische Plastikkamm in der Gesäßtasche. Wer es sich leisten konnte, fuhr ein Moped – laut knatternd die Straße hoch, die Straße runter. Zum Sprachcode gehörten eingedeutschte Kinoanglizismen wie „Bingo“ und „Zucker“. Der Körpercode war durch die Art des Tanzes nach den Rhythmen des von Elvis Presley interpretierten Rock’n’Roll charakterisiert, um durch kreisende Hüftbewegungen provokativ Sexualität auszudrücken.
Seit Ende der 1950er Jahre wechselte und domestizierte sich das zuvor übel beleumdete Halbstarkentum, changierte zur adretten Teenagerkultur von Peter Kraus und Cornelia Froboess. „Conny und Peter machen Musik“, hieß der unanstößige Schlagerfilm, der vor exakt einem halben Jahrhundert in die deutschen Kinos kam. Seither hat man sich daran gewöhnt, dass Protest durch die Sogkraft von Moden und Konsum umgehend gezähmt und eingepasst wird. Und das weltweit: 1956 wurde der Bill Haley-Film und die Rock’n’Roll Musik noch in etlichen Ländern verboten. Einige Jahre später war die Kultur des Subproletariats dort Motor einer gigantischen kapitalistischen Musikindustrie.
Bemerkenswert war, dass die proletarischen Halbstarken und die bildungsbürgerlichen 68er der gleichen Generation zugehörten, angesiedelt nur in zwei unterschiedlichen sozialen Etagen. Halbstarke und 68er zählten gemeinsam zu den Geburtsjahrgängen 1940 bis 1943. Doch jene rebellierten zehn Jahre früher und natürlich in ganz anderen – eben körperbetonten – Formen als diese. Die 68er schrieben Geschichte, die Halbstarken nicht. Und dies wortwörtlich: Die 68er formulierten als Akteure Tausende von Briefen, Pamphleten, Einträge in Tagebüchern. Ihre literarische Produktion war in gutbildungsbürgerlicher Tradition beachtlich. Die 68er Studenten schufen reichlich Quellen für die Geschichtsschreibung ihrer selbst, auch für spätere Mythen und Legenden. Die halbstarken Jungarbeiter hingegen deuteten sich nicht theoretisch, nicht intellektuell, auch nicht charismatisch. Es gab keinen Dutschke, keinen Marcuse, keinen Adorno.
Dabei war der kulturelle Einschnitt, den die Halbstarken setzten, keineswegs gering. Mit den Halbstarken begann die Verwestlichung der Kultur, der Bruch mit dem militärisch grundierten Deutschnationalismus. Und die proletarische Musik- sowie Kleidungskultur der 1950er Jahre antizipierte die Hörgewohnheiten und Jeanspassion der jungen akademischen Mittelschichten seit dem 1960er Jahrzehnt, während zuvor historisch doch stets ein kultureller „Sickereffekt“ sozial von oben nach unten zu konstatieren war.
Überdies signalisierte der halbstarke Hedonismus im proletarischen Milieu auch das Ende des ambitionierten Weltanschauungs- und Erziehungsanspruchs der organisierten Arbeiterbewegung. Die jungen halbstarken Arbeiter lebten und konsumierten für den Augenblick, bereiteten sich nicht mehr asketisch im Arbeiterbildungswesen der Sozialdemokratie auf ein fernes sozialistisches Endziel vor. Sie nahmen damit so indirekt und vermittelt die Godesberger Wende der SPD vorweg. Und sie indizierten die Entfremdung zwischen Unterschichten und Sozialdemokratie, die dann später in die SPD der „neuen Mitte“ führte. Mit den Halbstarken gingen also die typisch deutschen Sonderwege auf dem rechten und linken Spektrum der Politik und Gesellschaft zu Ende.
Doch auch in anderer Hinsicht nahmen die Halbstarken einiges von dem vorweg, was seit den späten 1960er Jahren allein mit „68“ assoziiert wurde. Die Halbstarken haben gewissermaßen die Methode der „Provokation“ entdeckt und zu einem politisch-medialen Stilmittel lanciert. Sie erlebten, welch große Wirkung der Tabubruch erzielen konnte – vor allem dann, wenn sich seine Rezeption medial multiplizierte. Eine ganze Politikergeneration, die man wohl zu Unrecht zu den 68er rechnete, ist mit dieser Wahrnehmung, ist in dieser Schule der Halbstarken groß geworden. Eine ganze Kohorte, von Lafontaine und Fischer bis hin zu Trittin und dem unglückseligen Möllemann, hat die Methode der Regelverletzung über die mediale Verstärkung biographisch genutzt – und knatterte sodann politisch die Straße hoch, die Straße runter, oft ohne Ziel, ohne Sinn. Als bislang letzter prominenter Repräsentant des halbstarken Tabubruchs versuchte sich von Zeit zu Zeit bekanntlich der FDP-Parteichef Westerwelle – selbst noch im Amt des Außenministers.
Aber die Zeiten scheinen zu ernst, als dass das Halbstarkentum in Regierungsfunktionen noch genüsslich goutiert würde. Die Halbstarkenmentalität markierte gewissermaßen den Beginn einer florierenden, zunächst krisenlosen, den Ernst der Vergangenheit abschüttelnden Konsumgesellschaft. Was damals begann, dürfte jetzt zu Ende gehen. Insofern wäre auch ein neuer Typus des politischen Darstellers gefordert. Westerwelle sah sich über Jahre gern als Avantgardist; derzeit hoffen nicht ganz wenige Menschen dieser Republik, dass er der letzte aus der Gattung dröhnender Halbstarkenrhetorik sein möge.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Zuletzt erschien von ihm „Gelb oder Grün. Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland.„