Diesseits von VersäulungDiesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus. Zur politischen, sozialen und kulturellen Perspektive europäischer Demokratien im Auflösungsprozess kollektiver Großstrukturen

Europaweit scheinen sich die klassischen gesellschaftlichen Großorganisationen im Auflösungsprozess zu befinden. Volksparteien, Gewerkschaften und Kirchen waren in der Vergangenheit die selbstverständlichen Adressaten bürgerschaftlichen Partizipationsbegehrens. Seit Beginn der 1980er Jahre, beschleunigt dann in den 1990ern, sahen sich die institutionalisierten Kollektivverbände durch eine fortgesetzte Auszehrung bedroht. Allgemein galt ein genereller, kontinuierlicher Rückgang des politisch-sozialen Engagements eine Zeit lang als unmittelbare und logische Folge der epochalen Transformation moderner Industriegesellschaften in die wissensgesellschaftliche Postmoderne. Dieser Trend wurde bekanntermaßen auf die Phänomene der „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ zurückgeführt werden. Im Widerspruch dazu stehen jedoch neuere Forschungsergebnisse, die zwar einen qualitativen Wandel des Engagements, auf die Gesamtgesellschaft bezogen, aber keinen quantitativen Rückgang ermitteln. Doch selbst wenn das Niveau bürgerschaftlichen Engagements nicht sinken, sondern sich nur dessen Form wandeln sollte, welche Gestalt nimmt es dann in Zukunft an, welche Rückwirkungen ergeben sich daraus für das gesellschaftliche Zusammenleben und durch welche Institutionen kann das Beteiligungspotenzial in aktive Teilhabe übersetzt werden?

In diesem Forschungsprojekt sollen Länder untersucht werden, die lange durch besonders ausgedehnte, wirkungsmächtige und zu sozialmoralischen Milieus verdichtete Großorganisationen gekennzeichnet waren und deren Gesellschaften in der Vergangenheit durch die Existenz solcher Milieus entlang politisch-kultureller Cleavages einerseits zwar gespalten, andererseits vor allem aber stabilisiert wurden. Im Fokus der Untersuchung werden daher Deutschland, Österreich und die Niederlande stehen, weil die milieufundierte, weltanschaulich-normative Zergliederung und Unterfütterung der Sozialstruktur in diesen drei Ländern besonders ausgeprägt war. Unter Milieus verstehen wir dabei im Folgenden engmaschig geknüpfte Beziehungsnetzwerke, die auf einem autonomen Organisationsgeflecht fußen, über eine eigene Weltanschauung verfügen und verbindliche Sinn-, Symbol- und Ritualsysteme konstituieren. Parteien waren stets nur ein, wenngleich gewichtiger Teil der in Österreich zumeist als „Lager“ und in den Niederlanden durch den Begriff „Säulen“ charakterisierten Milieus. Sie fungierten – nach einer klassischen Formulierung – als die „politischen Aktionsausschüsse“ dieser sozialkulturellen Eigenwelten, die sich organisatorisch weit über den politischen Bereich hinaus in zahlreiche Fugen des gesellschaftlichen Lebens erstreckten. Als Kompensat der sich auflösenden sozialmoralischen Milieus, durch das die Erosion der klassischen Großstrukturen ausgeglichen werden soll, wird gegenwärtig die „Zivilgesellschaft“ propagiert.

Das erkenntnisleitende Interesse des Projekts richtet sich auf die Frage, wie in den ehemals durch Milieus/Lager/Säulen strukturierten Gesellschaften nach dem Ende der unbestrittenen, kulturprägenden Dominanz althergebrachter Großorganisationen die Integration heterogener Bevölkerungsgruppen noch geleistet werden kann.