[analysiert]: Franz Walter über die wechselreiche Biographie des Willy Brandt
Und noch ein großer Geburtstag, den die Sozialdemokraten im Jahr 2013 feiern können: Am 18. Dezember 1913 brachte in Lübeck die Verkäuferin Martha Frahm ihren Sohn Herbert auf die Welt. Willy Brandt, wie sich dieser seit den Jahren der Emigration nach 1933 nannte, war schon als Kind über die Mutter und den Großvater gleichsam naturwüchsig in das sozialdemokratische Umfeld hineingewachsen, was etwa für den großen Parteiführer der Kaiserreichsjahre August Bebel, der gerade gestorben war, als Brandt auf die Welt kam, nicht zutraf, da dieser erst zu begründen hatte, worin Brandt dann politisch selbstverständlich aufwuchs. Aber wie fragil das Konstrukt war, wie sehr einige der planerischen Annahmen der Sozialismus-Architekten getrogen hatten, das hatte Bebel nicht mehr erleben müssen. Brandt wurde mit dieser Erfahrung groß. Als er zu den Roten Falken ging und im Jahr 1930, gerade 16-jährig, der SPD beitrat, unterschied sich die Welt der Arbeiterbewegung grundlegend von der im Jahr 1913 – dem Todesjahr des einen, dem Geburtsjahr des anderen der beiden großen Parteiführer in der sozialdemokratischen Geschichte. Der internationalistische Optimismus – perdu. Die Siegesgewissheit des Sozialismus – gebrochen. Das Monopol auf die Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft – passé. Die Hoffnung auf den Volksstaat – enttäuscht. Willy Brandt gehörte zu der Kohorte junger Sozialisten, die mit 16 Jahren unter dem Banner „Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist unser Ziel“ durch die Straßen marschierte. Ihre sozialistische Projektion besaß längst nicht mehr die heitere und unbekümmerte Selbstsicherheit wie in der Generation Bebel. Der Glaube enthielt nunmehr starke Züge von Skepsis, zuweilen der Verzweiflung, wohl auch des Trotz-Dogmatismus, um bohrende Fragen, das Gift des Einwands, das niemandem mehr unbekannt war, nicht an sich heranzulassen.
Die junge Weimarer Generation im Sozialismus, in der sich Melancholie und Voluntarismus merkwürdig mischten, rieb sich nahezu verzweifelt an den alten Formen, organisatorischen Beharrungsneigungen und der politischen Ideenlosigkeit der alten Garde der Sozialdemokratie. Aber anders als die Frontgeneration der – Mitte der 1890er Jahre geboren – Kurt Schumachers, Carlo Mierendorffs, Theodor Haubachs, die ähnlich unruhig auf die Stagnation der Linken reagierte, aber nicht wirkkräftig zum Zuge kam, erhielt die „Generation Brandt“ ihre politische Chance in den 1950er bis 1970er Jahren. Und dabei führte sie das gesamte Erfahrungsgepäck der furchtbaren politischen Katastrophen und tiefen gesellschaftlichen Umwandlungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich. Lernen, umlernen, neu orientieren – das wurde zur Richtschnur zumindest der sensiblen und intelligenten Kader der jungen Linken der späten Weimarer Jahre, die, wie Willy Brandt, bereits 1931 ihre Mutterpartei verließen, etwas Neues ausprobierten, gewiss voller Illusionen steckten, welche trogen und in Sackgassen manövrierten, aus denen man erneut herausfinden musste, weiter auf der Suche nach dem richtigen Weg.
Im Grund hatte Willy Brandt als politische Figur dennoch Glück in unglücklichen Zeiten. Als 1913er lebte er mitten in den Spannungen des 20. Jahrhunderts, aber er wurde keines ihrer Opfer; ihm boten sich in den Momenten politischer Zäsuren und gesellschaftlicher Umbrüche vielmehr Optionen für neue Versuche. Unter allen Parteiführern in der Sozialdemokratie wies Brandt die größte innere Vielfalt auf. Er war kein Fatalist des Geschichtsverlaufes wie August Bebel. Ihm galten gegebene Ordnungen nie besonders viel, im Unterschied zu Friedrich Ebert, dem Nachfolger Bebels und späteren ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Und im Vergleich zu seinem großen innerparteilichen Rivalen der 1960er bis 1980er Jahre, Helmut Schmidt also, dachte Brandt weit mehr in verschiedenen Möglichkeiten, da er im Laufe seiner durch Brüche gekennzeichneten Biographie unterschiedliche Logiken, Systeme, politische Charaktere kennen- und zu begreifen gelernt hatte, während Schmidt einseitiger sozialisiert war, seine Argumente stets eng führte, wenn er seine Kausalketten aus Problem-Ursache-Folgerung-Handlung fertigte. Brandt kannte die Welt auch jenseits der Rationalität, wusste um die Lockungen der Utopie, die Depressionen im Scheitern, den Fanatismus und Hass der Konvertiten, mithin: um die Bedeutung von Gefühlen, Neurosen und Kompensationen für die Politik. Schmidt hatte davon nie etwas wissen wollen, fürchtete sich vor fremden und wohl auch eigenen oft nur mühsam eingehegten Emotionen.
Brandt musste mit 19 Jahren emigrieren und brauchte dabei kein Emigrant der sonst üblichen Art zu werden, wollte es auch vom ersten Tag an nicht sein. Die älteren Emigranten, die sich an die fremde Sprache nicht gewöhnen mochten, igelten sich in ihrer Rolle ein. Sie blieben unter sich und setzten die dogmatischen Dispute der früheren Jahre fort, fixiert auf die Vergangenheit. Brandt mied diese introvertierte Atmosphäre. Er lernte rasch die norwegische Sprache, arbeitete in der norwegischen Partei und streifte im Zuge ihrer reformistischen Abkehr vom Marxismus ebenfalls seine revolutionären Kostüme der Weimarer Jahre ab. Als Emissär des Sozialismus reiste er in jenen Jahren nach Frankreich, nach Belgien und Holland, zur britischen Insel, in das Spanien des Bürgerkriegs. Alle neuen Erlebnisse sog er auf, erweiterte sein Weltbild, fächerte es aus. Vieles davon dürfte die Faszination ausgemacht haben, die von Brandt in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren gerade auf die nachgewachsenen Bundesdeutschen ausgegangen ist. Brandt verstand, besser als die meisten anderen Politiker, die neue Vielfalt, die sich jetzt herausbildete und zunächst polarisierend wirkte, Konfrontationen nährte. Brandt war schließlich selbst durch ein solches Mosaik gegangen, konnte dadurch in den schwierigen Jahren nach 1968 das werden, was Helmut Schmidt eher verächtlich fand: ein Integrator. Brandt war natürlich alles andere als ein 68er, aber er verstand, was sich da abspielte und sah in Polizeiaktionen keine vernünftige politische Reaktion darauf. Er war kein Friedrich Ebert, der die Auflösung aller Ordnungen fürchtete. Auch hielt Brandt Stabilität und eindeutige Mehrheitsverhältnisse einer Regierungskoalition nicht für Primärwerte. Deshalb ging er – wenngleich durchaus kein prinzipieller Gegner Großer Koalitionen, denen er in West-Berlin trotz absoluter Mehrheiten der Sozialdemokraten einige Jahre als Regierender Bürgermeister vorstand – 1969 das Abenteuer einer sozialliberalen Koalition ein, gegen alle Warnungen von Wehner und Schmidt, die in überkommener Manier der klassischen Sozialdemokratie das Experiment fürchteten, überhaupt Liberalismus und Individualismus zumindest in der Politik als störendes Ärgernis betrachteten.
Brandt war da anders. Ferdinand Lassalle, August Bebel, Friedrich Ebert, Otto Wels, Kurt Schumacher – ihnen allen sagte der Liberalismus nichts. Sie verstanden sich als links; und sie waren autoritär. Links und frei war demgegenüber das explizite Credo von Brandt. Darüber zog eine neue Mentalität in die Sozialdemokratie ein, wenngleich nur für einige Jahre. Auch Brandts stete, unruhige Suche nach neuen sozialen und politischen Allianzen, seine Witterung für Themen, die sich erst anzudeuten begannen, die Frauen- und Ökologiefrage etwa, belebten, veränderten seine Partei. Natürlich blieb vieles auch vage in seiner Rhetorik, die nie donnernd und großspurig, sondern meist zögerlich, tastend war. Wahrscheinlich sind die Enttäuschungen, die der weit ausholende reformerische Anspruch der frühen sozialliberalen Zeit durch bemerkenswert kontraproduktive Wirkungen und Kleinteiligkeiten erzeugt hat, nicht gering zu veranschlagen. Auch hat die Pose der majestätischen Entrückung, welche Brandt nach seinem großen Wahlsieg 1972 im darauf folgenden Jahr einnahm, den republikanisch-freiheitlichen Appell an den souveränen, vom staatlichen Paternalismus emanzipierten Bürger fast zurückgenommen, beinahe diskreditiert. Aber verglichen mit anderen sozialdemokratischen Parteiführern vor und meist auch nach ihm hat Brandt der demokratischen Linken hierzulande wenigstens für ein knappes Jahrzehnt den rechtzeitigen Wandel, die Kunst des Bündnisses, die erörternde Argumentation, die Fähigkeit zur Antizipation neuer gesellschaftlicher Strömungen und kultureller Einstellungen, nicht zuletzt auch die humane Qualität des Zweifels gelehrt.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.