Zwei Existenzen

[Göttinger Köpfe]: Teresa Nentwig über Gottfried August Bürger

Gottfried August Bürger – der Name dürfte heute den wenigsten bekannt sein, zumindest außerhalb der Literaturwissenschaft. Bürger, der von 1747 bis 1794 lebte, war Amtmann, bekannt aber wurde er als Dichter – und als gebrochene Existenz. Besonders in Göttingen, wo er viele Jahre seines schillernden, bewegten Lebens verbrachte, ist Bürger noch immer präsent: Eine vielbefahrene Ringstraße wurde nach ihm benannt (Bürgerstraße), Mitte des 19. Jahrhunderts ein Grabdenkmal errichtet, das die Widmung „Die Stadt Göttingen dem Dichter Gottfried August Bürger“ trägt. 1895 wurde schließlich seine lebensgroße Bronzebüste enthüllt.

Dennoch lässt sich das Leben von Gottfried August Bürger am besten mit dem Wort „tragisch“ charakterisieren. Dabei fing alles verheißungsvoll an: Bürger wurde 1747 in einfachen Verhältnissen in einem Dorf am östlichen Harzrand geboren. Der Großvater holte ihn aus der beengten Atmosphäre seines Elternhauses heraus und ermöglichte ihm zunächst den Schulbesuch und dann ein Studium. Ein sozialer Aufstieg durch Bildung zeichnete sich ab. Schon früh lassen sich aber auch Entwicklungen feststellen, die später Bürgers Karriere hemmen sollten. So pflegte bereits der junge Bürger einen leichtfertigen, ja recht liederlichen Lebensstil. In Halle, wo sich damals eine der führenden Universitäten des Heiligen Römischen Reiches befand, studierte er Theologie, nahm an verbotenen Trinkgelagen teil, wirkte an der Gründung einer illegalen studentischen Landsmannschaft mit und machte eine große Summe Schulden.

Büste von Gottfried August Bürger am Göttinger Wall

1768 wechselte Bürger an die Universität Göttingen, die zu jener Zeit als Adelsuniversität galt; hier ging es weitaus gesitteter als an anderen deutschen Universitäten zu. In Göttingen studierte, wer aus reichem Elternhaus kam. Wie die meisten Kommilitonen entschied sich Bürger für Rechtswissenschaften. Damit gehörte er „zu den Privilegierten, die erwarten durften, als Funktionselite in den Territorien des Alten Reichs die Ministerien zu besetzen“ (Gerhard Lauer). Doch auch in Göttingen änderte sich an Bürgers Lebensgewohnheiten nichts; er häufte weiter Schulden an und sein Großvater stellte schließlich die finanzielle Unterstützung vollständig ein. Zur Hilfe kam ihm der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der durch einen Freund Bürgers auf dessen Notlage hingewiesen worden war.

Trotz dieser Eskapaden zeichnete sich Bürger sowohl während seines Theologie- als auch Jurastudiums durch außerordentlichen Fleiß aus. Bereits in Halle widmete er sich zudem mit großem Eifer der Poesie, eine Vorliebe, die er in Göttingen ausbaute. Kurz nach seiner Ankunft in der Universitätsstadt gelang es Bürger, ein Gedicht in den prestigeträchtigen Göttingischen gelehrten Beyträgen zu veröffentlichen; mit seiner Probeschrift Etwas über eine deutsche Übersetzung des Homer (1769) machte er die gelehrte Welt auf sich aufmerksam. Selbst Goethe war überzeugt, Bürger könne ein berühmter Dichter werden. Der hoch Gelobte fuhr unterdessen weiter doppelgleisig und studierte weiter Jura. Als Bürger schließlich 1772 sein Studium beendete, erhielt er sogleich eine Stelle: Als Amtmann übernahm er die Gerichtshalterstelle zu Alten-Gleichen, die sich abgelegen bei Göttingen befand. Der Konflikt, der sich bereits in Halle angekündigt hatte, schlug nun voll durch. Bürger war fortan hin- und hergerissen zwischen seinen beruflichen Verpflichtungen und seinen literarisch-philologischen Ambitionen.

Mit der Gerichtshalterstelle hatte Bürger keine leichte Position übernommen. Zum einen befand sie sich in einem desolaten Zustand. Viel Arbeit hatte sich angestaut, große Unordnung herrschte. Zum anderen geriet Bürger immer wieder in die Intrigen der unter sich zerstrittenen Familie von Uslar hinein, in deren Besitz das Gericht stand. Er versuchte daher wiederholt, sich seines ungeliebten Amtes zu entledigen, allerdings viele Jahre ohne Erfolg. Seine Pläne kamen entweder erst gar nicht zur Ausführung (darunter seine Auswanderung und die Leitung eines Theaters) oder scheiterten (wie die Bewirtschaftung eines Gutes oder das Lotteriespielen – beides brachte ihm neue Schulden ein).

Während seiner Tätigkeit als Amtmann hatte Bürger kaum Zeit für die Poesie. An der Schwierigkeit, zwei grundverschiedene Lebensbereiche miteinander in Einklang zu bringen, litten im 18. Jahrhundert zahlreiche Autoren und Intellektuelle. Bei Bürger jedoch kam zu diesem zeitspezifischen Problem noch ein individueller, sein Privatleben betreffender Konflikt hinzu: 1774 heiratete er Dorothea (Dorette) Leonhart, obwohl er die junge Frau gar nicht liebte. Da sie jedoch ein Kind von ihm erwartete, hatte er sich trotzdem zur Heirat entschlossen. Statt Dorette liebte Bürger deren erst 16-jährige Schwester Auguste, genannt Molly. Um ihren Mann nicht zu verlieren, stimmte Dorette einer ménage à trois zu – Bürgers Umfeld reagierte empört, zumal auch Molly ihm einen Sohn gebar. Nachdem Dorette Mitte 1784 an den Folgen der Geburt des dritten Kindes gestorben war, heiratete Bürger ein Jahr später Molly. Doch aus der erhofften glücklichen Zukunft wurde nichts: Ein halbes Jahr nach der Hochzeit, Anfang 1786, starb auch Molly, ebenfalls an den Folgen einer Geburt. Über diesen Schicksalsschlag sollte Bürger nie hinwegkommen.

Nach zwölf Jahren als Amtmann hatte er es allerdings geschafft, eine andere Stelle zu finden. Durch die Förderung dreier Professoren, darunter auch Georg Christoph Lichtenberg, wurde Bürger 1784 Privatdozent an der Universität Göttingen. Bis zu seinem Tod zehn Jahre später hielt er Vorlesungen über Ästhetik, Stilistik, deutsche Sprache und Philosophie. Während dieser Zeit wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil – so die Bitte um eine Ansprache zum 50-jährigen Jubiläum der Universität Göttingen 1787, die Auszeichnung mit der Doktorwürde zum gleichen Anlass und 1789 die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Bürgers Lebenssituation verbesserte sich dennoch nicht. Denn für seine Vorlesungen erhielt Bürger kein Gehalt, nur kleine Hörergelder. Die Regierung in Hannover weigerte sich, den Professor fest anzustellen. Drei Gründe dürften hierfür ausschlaggebend gewesen sein: Erstens war sein Ruf, den er als Amtmann besaß, nicht der beste. Zweitens hatte sich Bürger mit seinem unkonventionellen und unakademischen Auftreten im Universitätsbetrieb keine Freunde gemacht. Und drittens war er irgendwie „anders“ als die übrigen Professoren: „Ein Mann, der ohne Magisterexamen und lateinische Disputation auftrat und sich dabei als Poet einen Namen gemacht hatte, wurde von der Mehrzahl der Professoren als Schöngeist belächelt und zum Außenseiter abgestempelt.“ (Günter Häntzschel)

Auch außerhalb der Wissenschaft wurde Bürger mehr und mehr zum Sonderling: Die 1790 auf abenteuerliche Weise zustande gekommene Ehe mit Elise Hahn entpuppte sich als Reinfall. Sie betrog ihn – ganz Göttingen wusste davon, nur Bürger selbst nicht, der damit zum Objekt des Spotts wurde. Hinzu kam 1791 eine vernichtende Kritik Friedrich Schillers an seinen Gedichten, die ihn zutiefst verletzte. In diesen Jahren wurde Bürger immer kränker, die Schulden immer erdrückender. Letzte Bittschriften brachten nicht den erhofften Erfolg. 1794 starb er mit nur 46 Jahren.

Was ist von Gottfried August Bürger geblieben? Die deutsche Übersetzung des Homer, der die literarische Öffentlichkeit mit so großer Erwartung entgegensah, brachte Bürger nicht zu Ende. Das war hauptsächlich bedingt durch seine zwei Existenzen als Dichter und Amtmann eines adligen Gerichts. Und doch: Sein literarisches Werk ist beträchtlich. Viele Gedichte gehören dazu, darunter die bekannte Ballade Lenore, aber auch theoretische Texte wie Herzensausguß über Volkspoesie und eine Sammlung von Erzählungen, die Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande etwa, in deren Mittelpunkt der Lügenbaron Freiherr von Münchhausen steht. Vor allem durch dieses letzte Werk ist Bürger heute noch bekannt. Daneben war er Verfasser zahlreicher politischer und sozialkritischer Schriften. Darin vertrat Bürger die Rechte der unteren Schichten, der von den Feudalherren willkürlich Unterdrückten. Das Ideal, das sein gesamtes literarisches Schaffen leitete, war die Volkstümlichkeit; Bürger wollte alle gesellschaftlichen Schichten ansprechen.

Zu Lebzeiten fand Bürger für all das Anerkennung und Ruhm – nur in Göttingen nicht. Drei Monate vor seinem Tod beklagte er, dass seine „Celebrität (…) für das kalte Hannoversche und Göttingische Klima wenig Werth zu haben scheint“, im Ausland es damit aber „ganz anders beschaffen“ sei. In Göttingen spreche man ihn nur selten an, während er außerhalb des Königreichs Hannover „mit einer Hochachtung und Wärme, ja oft mit einem Enthusiasmus aufgenommen“ werde, der ihn in Verlegenheit versetze. Erst postum erwies Göttingen dem Dichter Reverenz.

Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.