[nachgefragt]: Interview mit Johanna Klatt über Veränderungen im zivilgesellschaftlichen Engagement.
Johanna Klatt untersucht im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“ den Bereich „Zivilgesellschaften“. Im Interview erklärt sie, was es damit auf sich hat.
In deinem Projektteil geht es um die Zivilgesellschaften Deutschlands, Österreichs und der Niederlande. Was aber ist denn überhaupt „die Zivilgesellschaft“?
Zugegeben, Zivilgesellschaft ist zunächst ein schwammiger Begriff. Man kann sie sich als Inhalt eines Dreiecks vorstellen, in dem die drei Spitzen der Staat, die Wirtschaft und das Private sind. Zivilgesellschaft ist dann sozusagen der Rest, der räumliche Inhalt des Dreiecks, um im Bild zu bleiben – also das Nicht-Staatliche und Nicht-Wirtschaftliche und Öffentliche. Doch bereits diese Restdefinition – oder „Residualdefinition“, wie sie in der Forschung kompliziert genannt wird – ist problematisch.
Kannst du uns ein Beispiel für ein Definitionsproblem geben? Wo sind Weiterentwicklungen des Begriffs nötig?
Nehmen wir das Kriterium des Öffentlichkeitsbezuges als Beispiel. Historisch betrachtet wurden wegen des Ausschlusses der „privaten“ Zivilgesellschaft gerade viele weibliche Aktivitäten ausgeblendet, etwa soziales Engagement im Nahbereich wie das Kümmern um Familie oder Nachbarn. Und heute, das haben aktuelle Befragungen eines unserer Institutsprojekte gezeigt, werden durch den engen Zivilgesellschaftsblick viele informelle Hilfsnetzwerke sozial benachteiligter Gruppen, beispielsweise migrantische Hilfsnetzwerke, „übersehen“. Zivilgesellschaft zu definieren ist also nicht ganz leicht, besonders weil ihre Definition bereits die Perspektive der Forschung bestimmt.
Und was bedeutet der Begriff konkret?
Der Begriff Zivilgesellschaft wird von vielen, sehr heterogenen Gruppen gebraucht. Die einen verstehen darunter eine gesellschaftliche Weiterentwicklung, sozusagen ein weiteres Entwicklungsstadium der demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen Gesellschaft. Unter Zivilgesellschaft können so Grund- und Menschenrechte oder eine Bevölkerung aktiver und kritischer Akteure selbst verstanden werden. Wieder andere deuten Zivilgesellschaft weniger normativ und hoffnungsvoll, sondern eher forschungsneutral. Jegliche freiwilligen und gemeinschaftlichen Aktivitäten innerhalb des Dreiecks können danach Zivilgesellschaft sein. In diesem Zusammenhang wird häufig auf den hohen Aktivitätsgrad der „Zivilgesellschaft“ während der Zeit des Nationalsozialismus verwiesen, die „bad civil society“ sozusagen. Zivilgesellschaft ist laut dieser Argumentation nicht immer „gut“, nicht immer inklusiv oder demokratieförderlich.
Und wie sieht die moderne Zivilgesellschaft aus?
Zumindest über die äußere Form von zivilgesellschaftlicher Aktivität lässt sich eine Aussage fällen. Dass Großorganisationen wie Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften einen enormen Mitgliederschwund aufweisen, ist ja bekannt. Doch dies scheint nicht nur deren Inhalten geschuldet. Insgesamt sind, übrigens in ganz Westeuropa, mitgliedschaftliche, starre und bindende Strukturen „out“. Natürlich wirken sich hier in erster Linie soziologische Individualisierungsprozesse aus. Doch zudem scheinen die Menschen „Sinn“ nicht mehr in der Organisation selbst zu finden. Das Projekt- oder Engagementziel ist nun häufig der einzig verbleibende „Sinn“. Man verhält sich ganz zielorientiert und pragmatisch, erwartet die Erfüllung bestimmter Zwecke. Etwa beim Gang ins Fitnessstudio: Hier hat sich sportliche Betätigung, die früher automatisch mit Gemeinschaft verbunden war, abgekoppelt und ist zum „Selbstzweck“ geworden. Es geht in erster Linie darum, schlank, sportlich und fit zu werden. Doch von der Gesellschaft oder Gemeinschaft eines Vereinslebens schottet man sich – im Fitnessstudio dann sogar bei Musik und unter Kopfhörern – ab.
Hat sich so auch die Funktion von politischen und sozialen Organisationen verändert?
Ja, viele gehen nicht mehr in eine politische Partei „der Gesellschaft“ oder „der Partei“ wegen. Wenn man ein partikulares Ziel für besonders wichtig hält, unterstützt man einfach die entsprechende Initiative, Organisation oder man spendet. An entsprechende „checkbook organizations“ wenden sich häufig gerade die Eliten, die den Parteien dann fehlen.
Von den Organisationen wird dann nur noch Formelles, ja Dienstleistungsartiges erwartet. Denn man selbst hat keine Lust, Papierarbeiten zu erledigen oder regelmäßig verpflichtet zu sein. Das geht auch häufig aufgrund ständig wechselnder beruflicher Lebensläufe gar nicht. Die moderne Gesellschaft erfordert in vielerlei Hinsicht Flexibilität, was sich natürlich auch auf die Zivilgesellschaft auswirkt.
Und was hat das nun mit Demokratie zu tun?
Nun, Veränderungen der Form von Engagement können sich auch qualitativ auswirken. Bei Parteien ist zum Beispiel derzeit am deutlichsten eine personelle Verengung abzulesen: In ihnen engagiert sich häufig nur noch ein ganz bestimmter Typus. Viele innovative oder quergeistige Personen werden hingegen von starren Strukturen abgeschreckt. Demgegenüber steht eine völlig diffuse, partikulare und verstreute Zivilgesellschaft, die nur schwer zu analysieren ist. Daher ist kaum zu sagen, wer Teil der Zivilgesellschaft ist und wer nicht. Es bleibt also offen, wie repräsentativ diese „moderne“ Zivilgesellschaft fernab der Großorganisationen für unsere Gesellschaft ist.
Das heißt, womöglich betätigen sich nur bestimmte Teile der Gesellschaft an den „modernen“ Engagementsformen?
Richtig, und dies könnte auch in der Zivilgesellschaft die Entwicklung sozialer Ungleichheiten begünstigen. Schließlich stellt sich die Frage, was es bedeutet, wenn gerade gesellschaftliche Eliten einen wechselhaften und nur partikular orientierten Engagementstil betreiben. Alexis de Tocqueville hat mit seinen Betrachtungen zur amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhundert eine wichtige Beobachtung gemacht: In zivilgesellschaftlichen Organisationen könnten Bürger, wie in Schulen der Demokratie, demokratische Werte und Erfahrungen erlernen, durch inhaltliche Auseinandersetzungen mit Mitmenschen zum Beispiel erfahren, dass Dinge ausgehandelt und diskutiert werden müssen. Dass dies nervenauftreibend, langwierig und oft auch langweilig ist. Und, dass Kompromisse geschlossen werden müssen. Der aktuell vorherrschende Engagementstil scheint dem im Grunde zu widersprechen: Studien wie das Freiwilligensurvey für Deutschland oder Civicus für die Niederlande belegen immer wieder, dass gerade flexible und spontane, projektorientierte und individuelle Engagementformen bevorzugt werden. Es muss pragmatisch und praktisch zugehen. Ein klares Ziel soll möglichst schnell und effizient erreicht werden. Um die gemeinschaftliche Lernerfahrung inhaltlicher Aushandlungsprozesse geht es dabei immer weniger. Was de Tocqueville zu den Engagement-Entwicklungen in Deutschland, Österreich und den Niederlanden sagen würde, inwiefern sie also auch problematisch für das demokratische System sein können, ist eine der Fragen, mit der wir uns beschäftigen.
Das Interview führte Daniela Kallinich.
Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus„.