„Wutbürger“?

[kommentiert]: Ana Belle Becké über den überaus maßvollen Protest der bürgerlichen Mitte.

Derzeit gibt es kaum ein Großprojekt, das nicht von Protesten begleitet wird. Nicht nur „Stuttgart 21“, auch andere infrastrukturelle Maßnahmen wie die Fehmarnbelt-Überquerung oder die Olympiabewerbung Münchens riefen eine Protestwelle des Bürgertums hervor, das aufbegehrt gegen verkrustete Entscheidungsstrukturen in der Bundesrepublik. Seit letztem Sommer gibt es für dieses Phänomen auch einen handlichen Namen: Als buhende und schreiende „Wutbürger“ werden die protestierenden Mittelschichtsangehörigen in den Medien bezeichnet. Das Bild des empörten Besitzstandswahrers, der jegliche Reformen und Bauprojekte aus Angst vor Veränderung und aus Egoismus ablehnt, wird seitdem häufig bemüht, egal um welche Form des Protests es sich handelt. Dabei zeigt das Beispiel der Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen und Stromtrassen, dass eine differenziertere Sichtweise angebracht ist.

Gegen den Ausbau der Windenergie, die spätestens seit der Atomkatastrophe von Japan einhellig von der Politik in Deutschland gefordert und gefördert wird, formiert sich schon seit Jahren Protest. Hinzu kommt: Der Ausbau der Windenergie hat auch einen Ausbau der Leitungsnetze zur Folge. Dabei sollen die „Stromautobahnen“ ausgebaut werden, um den Strom sicher in die Netze  einzuspeisen. Unter dem Synonym „ Windkraftgegener“ agieren  ca. 70 Bürgerinitiativen, die gut vernetzt sind. Die EPAW  („European Platform Against Windfarms“) ist die europäische Schaltstelle, die europaweit Initiativen vereint und auch in Deutschland eine erstaunliche Anzahl an Interessengruppen auflistet. Ähnliches zeigt sich im Bereich des Netzausbaus, auch hier ist die Anzahl an Bürgerinitiativen beachtlich.

Eine Arbeitsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung hat nun herausgefunden: Der  Protest gegen den Ausbau von Windkraftanlagen und Stromtrassen passt nicht zum medial verbreiteten Bild des grantelnden Wutbürgers, welches, geprägt durch den Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit, als Synonym für eine neue bürgerliche Protestbewegung steht. Zwar stammen die „Protestler“ zweifelsfrei aus der Mitte der Gesellschaft. Sie befinden sich in einem gesetzten Alter zwischen 45 und 59 Jahren und zählen überwiegend zu der Berufsgruppe der „Besserverdienenden“  – diese Daten ergeben sich aus einer Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, in der zweiundfünfzig Bürgerinitiativen befragt wurden. Allerdings zeigt sich auch, dass die Hälfte der Initiativen gegen den Ausbau von Windenergie  und Stromnetze sich bereits zwischen den Jahren 2007 und 2009 gegründet hat. Es handelt sich mithin nicht um ein neues Phänomen.

Außerdem agieren die Mitglieder der Initiativen äußerst maßvoll. Wirft man einen Blick auf die Organisationsstruktur, so zeigen sich ruhige Formen des Protestes. Eine Mehrzahl setzt auf eine produktive Vernetzung und Kontaktpflege mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Im Rahmen dieser Kooperation kommt es zur Organisation gemeinsamer Veranstaltungen. Statt Demonstrationen gibt es Mahnwachen, Lichterketten und Unterschriftenaktionen. Die  Bürgerinitiativen sind bemüht, komplexe Thematiken durch eine engagierte Pressearbeit für die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierin zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der Bürgerinitiativen: Die Mitglieder sind überdurchschnittlich gut mit dem Protestgegenstand vertraut. Statt „Spaßprotest“ geht es um „Protest mit Tiefgang“.

Glaubt man dem übereinstimmenden Bild der Medien, dann sind es vor allem piefige Hausbesitzer, die um die Lebensqualität im eigenen Garten fürchten – sei es durch den Schlagschatten der Rotorenblätter der Windkraftanlagen oder das unerträgliche Surren der Oberlandleitungen. Die Befragung der Bürgerinitiativen zeigt hingegen, dass persönliche Anliegen und der Schutz des persönlichen Eigentums im Hintergrund der Proteste stehen.  Den Initiativlern geht es vielmehr um eine neue Beteiligungskultur in der Bundesrepublik. Etwa die Hälfte unter ihnen fordert, dass der Umgang mit dem Bürger bei anstehenden Entscheidungsprozessen generell überdacht werden soll. Dabei soll die neue Partizipation direkt am und vor allem vor dem Gesetzgebungsprozess eingreifen und nicht nur nachträglich und über das Mittel des Volksentscheides umgesetzt werden.

Der gesellschaftliche Diskurs stilisiert den „Wutbürger“ als Phänomen unseres jungen Jahrzehnts. Kaum eine Protestform, die nicht postwendend mit dem Begriff des sich ereifernden Protagonisten Dirk Kurbjuweits assoziiert wird. Doch wie die Analyse der Bürgerinitiativen zeigt, hat die bürgerliche Mitte keineswegs jedes Maß verloren. Im Gegenteil fordert sie, direkt an der Planung von Bauprojekten beteiligt zu werden. Ihre Ziele sind größtenteils konstruktiv und vor allem lokal begrenzt, und ihr Empörungspotential scheint eher gering. Zumindest in ihrer Selbsteinschätzung sind sich die Bürgerinitiativen einig: Sie schreiben sich ein extrem hohes Bedeutungsmaß zu und sind überzeugt, als unabhängiger und objektiver Informationslieferant an einer wichtigen Schaltstelle zwischen Politik und Wirtschaft zu sitzen. Je kleiner dabei die Initiative ist, desto höher wird auch der eigene Einfluss bewertet. Diese Selbstüberschätzung der eigenen Rolle ist vermutlich nicht zuletzt auf die hysterische Wutbürgerdebatte zurückzuführen.

Ana Belle Becké ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Mitglied in einer Forschungsgruppe zum Thema „neue Proteste“.