[kommentiert]: Frauke Schulz über Authentizität, Politik und Populismus
„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Mit diesem Satz rechtfertigen sich diejenigen, die mit ihren Einlassungen die Debattenkultur der Nation bestimmen. Guido Westerwelle machte mit seinem Vergleich von Hartz IV und spätrömischer Dekadenz den Anfang und hat mit Thilo Sarrazin einen prominenten Nachahmer gefunden. Auch Erika Steinbachs Äußerungen zur Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg schlagen in die gleiche Kerbe – wenngleich medial weniger beachtet. Danach verkaufte sich Horst Seehofer als Mann des offenen Wortes. Allen Genannten ist gemeinsam, dass sie sich als vermeintliche Verfechter der Meinungsfreiheit in Deutschland stilisieren.
Als Speerspitze dieses Trends veröffentlichte die BILD-Zeitung unlängst mit einer zehn Punkte umfassenden Liste von Dingen, die „man ja wohl noch sagen“ dürfe, quasi die zehn Gebote der Meinungsfreiheit. Kritische Beobachter sprechen vor diesem Hintergrund nun wieder vermehrt über den politischen Populismus. Neben dem populistischen Element verbirgt sich hinter der Strategie der Provokateure jedoch ein weiteres Stilmittel der politischen Kommunikation: die Authentisierung.
Spätestens seit der Bewerbung Andrea Ypsilantis um das hessische Ministerpräsidentenamt ist der Begriff ‚authentisch’ fester Teil der medialen Politikberichterstattung. Authentizität scheint zum höchsten Gut der Gegenwart avanciert zu sein, jemanden als ,authentisch‘ zu beschreiben, ist zugleich höchstes Lob und größtes Kompliment. Der Eindruck, ein Politiker sage, was er wirklich denkt und unterwerfe seine Äußerungen nicht strategischen Bedenken oder gar dem Konsens der Political Correctness, erscheint als ultimativer Beweis für dessen Authentizität.
Jedoch ist der Begriff der Authentizität ambivalent. Denn während dieser oft mit Glaubwürdigkeit, Echtheit, Ehrlichkeit, Natürlichkeit und Unverfälschtheit gleichgesetzt wird, darf nicht vergessen werden, dass Authentizität keineswegs ein Garant für Unverfälschtheit ist – sie kann vielmehr bewusst erzeugt und künstlich hergestellt werden. Authentizität ist kein statisches Attribut, sondern ein Rezeptionseffekt. Das bedeutet, dass eine Person niemals authentisch sein kann, sondern authentisch das ist, als was sie wahrgenommen wird. Hierin liegt ein bedeutender Unterschied, der in der Nutzung des Begriffs nahezu immer übersehen wird. Damit sind ,Authentizität‘ und ,Inszenierung‘ keineswegs mehr Gegensatzpaare. Stattdessen bleibt von den überhöhten Assoziationen des Attributs ,authentisch‘ mit Natürlichkeit, Unverfälschtheit und Echtheit bei näherer Betrachtung schließlich nichts weiter übrig als dessen Bedeutung als ästhetischer Begriff.
Die Inszenierung von Echtheit findet nicht nur in der Politik statt. Wie weit die Möglichkeiten reichen, künstlich eine vermeintliche Natürlichkeit zu erzeugen, zeigt sich sehr deutlich am modernen Film. In der Medien- und Kommunikationswissenschaft spricht man von Authentisierungsstrategien: Typische Merkmale des dokumentarischen Genres – beispielsweise unvollständige oder grammatikalisch falsche Sätze, regionale Mundarten oder umgangssprachliche Ausdrücke, verwackelte Bilder oder mangelhafte Tonqualität – werden für pseudo-dokumentarische Projekte genutzt. So wird der Eindruck vermittelt, dass eine reale Geschichte erzählt wird. Populäres Beispiel hierfür ist der Film „Blair Witch Project“, dessen fiktionaler Inhalt vor allem durch seine dokumentarische Erzählästhetik gruselig und beklemmend wirkt.
Auch Politiker können durch unterschiedlichste Strategien bewusst ein authentisches Bild in der Öffentlichkeit konstruieren, um eine positive Resonanz zu erzielen. Andrea Ypsilanti beispielsweise punktete damit, dass sich ihr privater Lebensstil mit den politischen Forderungen zu decken schien. Querulanten wie Sarrazin und Co. machen sich vor allem die Authentisierungsstrategie des Aus-der-Rolle-Fallens zunutze. Genau wie eine Person im Dokumentarfilm nicht dem Auftreten eines Schauspielers im fiktionalen Film entspricht, so brechen Populisten und Provokateure aus der traditionellen Politikerrolle aus: Anstatt durch vage Formulierungen und moderate Aussagen zu vermitteln, zu relativieren und zu integrieren, suchen sie den Tabubruch. Sie stellen sich damit gezielt gegen den gesellschaftlichen Konsens über das, was gemeinhin als salonfähig gilt. Es ist dabei vor allem dem schlechten Image der Berufspolitiker geschuldet, dass jegliche Negation der eigenen Politikerrolle honoriert wird. Denn nach einer ersten Welle der Empörung wurde in den Medien unterschiedlichster politischer Façon zunehmend Beifall geklatscht für die vermeintlich so offenen und erfrischenden Worte.
Die breite Zustimmung beweist: Seiteneinsteiger, Querulanten und Querdenker gelten als besonders authentisch, da sie scheinbar im Gegensatz zum prototypischen Politiker eine vermeintlich „eigene Meinung“ vertreten. Als Folge fühlten sich auch andere Regierende sogleich berufen, als Trittbrettfahrer auf den integrationskritischen Zug aufzuspringen. Ohne die Hoffnung auf ein paar Brosamen der Popularität Sarrazins wäre einer so moderaten Politikerin wie Angel Merkel ein „Multi-Kulti ist gescheitert!“ eher nicht über die Lippen gekommen.
Sicherlich ist dieses authentisierende Aus-der-Rolle-Fallen zunächst nur ein Charakteristikum, das zu einer bestimmten Rezeptionswirkung führt. Wirkt jemand authentisch, so muss keineswegs pauschal Inszenierung oder Manipulation unterstellt werden. Dennoch ist eine unreflektierte Wahrnehmung von authentisierenden Momenten gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Renaissance des politischen Populismus problematisch. Denn das Herausstellen der eigenen Distanz zum Politikbetrieb und die Überbetonung der Freiheit von den Zwängen der Political Correctness erscheinen in den aktuellen Fällen sehr bewusst eingesetzt. Die vermeintliche Verteidigung der Meinungsfreiheit „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ ist dabei lediglich ein Instrument, das einerseits die eigene Position authentisiert und andererseits jedes Gegenargument pauschal entwertet.
Frauke Schulz ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Taz Online.