Wir können alles – aber auch Machtwechsel?

[analysiert]: Jens Gmeiner über die traditionelle Stärke der CDU in Baden-Württemberg

Am 27. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Zum ersten Mal seit langer Zeit scheint dabei im „Ländle“ ein Machtwechsel realistischer zu sein. Grüne und Sozialdemokraten wittern die historische Chance, die jahrzehntelange Hegemonie der CDU zu brechen. Für die Christdemokraten wäre der Verlust ihres Stammlandes, in dem sie seit 1953 durchgehend den Ministerpräsidenten stellt, eine weitere Hiobsbotschaft nach dem desaströsen Abschneiden bei der Hamburger Bürgerschaftswahl. Aber Baden-Württemberg ist nicht Hamburg, denn bei Landtagswahlen im Südwesten Deutschlands sind bürgerlich-konservativen Parteien traditionell begünstigt.

Im Bundesland Baden-Württemberg dominiert bis heute eine größtenteils dörflich-kleinstädtische Siedlungsform, welche die Bildung sozialdemokratischer Milieustrukturen erschwerte. Größere verdichtete Ballungsgebiete fehlen mit Ausnahme der Regionen Stuttgart und Mannheim. Nur vier Städte in Baden-Württemberg haben mehr als 200 000 Einwohner, obwohl im ganzen Land 10,7 Millionen Menschen leben. Nur wenige Industriestädte sind im Zuge der verspäteten Industrialisierung entstanden –wie Heilbronn, Pforzheim oder Esslingen –, die bis heute Hochburgen der Sozialdemokratie darstellen. Ein Großteil der Arbeiterschaft verblieb daher in den traditionellen kleinstädtisch-dörflichen Strukturen, was vornehmlich der CDU zu Gute kam.

Ein weiterer Faktor, der die Hegemonie der CDU begünstigt hat, ist die Konfessionsstruktur in Baden-Württemberg. Dreiviertel der Bevölkerung gehören einer der beiden großen Konfessionen oder den christlichen Freikirchen an. Weiträumig säkularisierte Gebiete findet man in Baden-Württemberg selten. Richtet man den Blick in den Süden des Landes nach Oberschwaben oder Südbaden, so steht die CDU hier in der Tradition des konservativ-ländlichen Katholizismus. Oberschwaben symbolisiert wie kein anderer Landstrich in Baden-Württemberg die barocke, rituelle Lebenswelt eines Katholizismus, der bei Fronleichnamsprozessionen sowie Wallfahrten und Blutritten farbenprächtig und selbstbewusst sein Erbe zur Schau stellt. Im nördlichen Teil Württembergs rund um Stuttgart, im Albvorland und im nördlichen Schwarzwald dominiert bis heute der Protestantismus, der in diesen Gebieten zu einer Vielzahl von religiösen Sonderbewegungen geführt hat. Die Erweckungsbewegungen haben dort ihre Spuren hinterlassen und die württembergische Landeskirche ist noch immer stark durchtränkt vom Pietismus. Auch in den Gebieten Nord-Württembergs gelang es der CDU im Laufe der Zeit, die eher konservativ ausgerichteten protestantischen Milieus zu durchdringen. Größter Konkurrent stellte dabei nicht die SPD, sondern die FDP/DVP dar.

Die CDU konnte die Hegemonie in Baden-Württemberg dadurch zementieren, indem sie in den einzelnen Gebieten als Regionalpartei auftrat und somit die verschiedenen Identitäten der Regionen repräsentieren konnte. Unter Hans Filbinger wurde in den siebziger Jahren der Integrationsprozess verschiedener Milieus vorangetrieben und der Grundstein des Aufstiegs der CDU zur Landespartei gelegt. Gleichwohl ist die CDU bis heute eine Partei, welche die regionale Identität betont und auch in ihrem innerparteilichen Machtgefüge ein ausdifferenziertes Proporzsystem etabliert hat. Im Speckgürtel um Stuttgart tritt sie beispielsweise als wirtschaftsfreundliche, dynamische Partei auf, die Modernisierung und Wachstum verspricht. Im ländlichen oberschwäbischen und südbadischen Raum ist sie die Partei des Bewahrens, der Heimat und parteipolitischer Repräsentant eines alltäglichen Verbändekatholizismus.

Wie die CSU in Bayern hat es auch die CDU in Baden-Württemberg lange Zeit geschafft, die landesspezifischen schwäbischen Tugenden Fleiß, Disziplin und Erfinderreichtum mit der eigenen Regierungsverantwortung zu verbinden und somit quasi eine Symbiose zwischen dem Bundesland Baden-Württemberg und der Landes-CDU herzustellen. „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ lautete folglich der Slogan, der im Jahre 1999 den innovativen und dynamischen Charakter des Bundeslandes medial nach außen tragen sollte. Baden-Württemberg ist ohne Zweifel eine der Wachstumsregionen Deutschlands mit niedriger Arbeitslosigkeit und gesunden Staatsfinanzen.

Insofern könnte sich die Landes-CDU auf ihren Lorbeeren ausruhen, auf die guten Wirtschaftsdaten verweisen und hoffen, dass die strukturellen Mehrheitsverhältnisse für ein eindeutiges Ergebnis sorgen. Ob dies allerdings bei der Wahl am 27. März ausreicht, kann bezweifelt werden, denn neben dem weitreichenden Bürgerprotest hinsichtlich der Atompolitik und dem Großprojekt Stuttgart 21 machen sich langsam auch Auflösungserscheinungen in struktureller Hinsicht bemerkbar.

Die Protestbewegung um den Stuttgarter Bahnhof steht wie keine andere Entwicklung des letzten Jahres für das Aufbegehren des modernen Bürgertums gegen die CDU, die lange Zeit Hort und Sprachrohr der großstädtischen modernen Schichten in Baden-Württemberg war. Zwar flaute die mediale Berichterstattung über das strittige Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 nach dem Schlichterspruch von Heiner Geißler ab, aber die CDU hat mit ihrer anfangs hartnäckig gefahren Linie und den Tumulten zwischen Protestanten und Polizisten im Schlossgarten wichtiges Vertrauen verspielt, was sich in der elektoralen Endabrechnung bemerkbar machen könnte. Es deutet viel darauf hin, dass große Teile des gebildeten Bürgertums zu den Grünen überlaufen und somit an der Machtarchitektur der CDU sägen werden. Die FDP/DVP wird jedenfalls nicht das Auffangbecken des frustrierten urbanen Bürgertums in Baden-Württemberg darstellen.

Zugleich ist auch fraglich, ob die CDU bei dieser Wahl den Spagat zwischen den heterogenen Wählerschichten bewältigen kann. Baden-Württemberg ist nämlich nicht nur ein bedeutender Dienstleistungs- und Universitätsstandort, sondern auch wichtiger industrieller Angelpunkt der Maschinen- und Automobilindustrie sowie Zentrum des Mittelstandes und des Handwerks. In den Universitätsstädten haben die Grünen gegenwärtig ihre stabilen Hochburgen und stellen in Freiburg, Konstanz und Tübingen den Oberbürgermeister. In den größeren Industriestädten Esslingen, Reutlingen, Pforzheim und Mannheim regieren größtenteils Sozialdemokraten als Oberbürgermeister. Unterhalb der Landesebene schneidet die CDU deutlich schlechter ab, was unter anderem auch an der starken Stellung der Freien Wähler liegt. Generell wird es auch für die CDU in Baden-Württemberg schwerer, den Balanceakt zwischen traditionellen katholischen Stammwählern, den gut ausgebildeten Mittelschichten in den urbanen Zentren sowie den Industriearbeitern von Daimler und Bosch zu schaffen. Die Symbiose von Bollenhut und Laptop wird, trotz der strukturellen Stärke der CDU in Baden-Württemberg, auch in Zukunft eine Herausforderung darstellen. Ob die Landes-CDU und Stefan Mappus diesen Integrationsakt weiterhin bewerkstelligen, wird sich am 27. März zeigen.

Darüber hinaus wird sich am 27. März an der Wahlurne auch entscheiden, wie stark sich die atomare Angst nach den Ereignissen in Japan in die baden-württembergische Wählerschaft eingebrannt hat. Für die CDU kam das Unglück in Japan, milde ausgedrückt, zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, weil die Atompolitik der CDU und die eindeutige Haltung ihres Spitzenkandidaten Stefan Mappus zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke der Opposition eine Steilvorlage gab, an der Aufrichtigkeit der Atomwende zu zweifeln. Obwohl Mappus nach den Vorfällen in Japan anordnete, die älteren Meiler Neckarwestheim I und Philippsburg I herunterzufahren, wird seine Kehrtwende kurz vor der Wahl wohl mit Misstrauen beäugt und vor allem auf wahltaktische Winkelzüge zurückgeführt. Ein Großteil der Befragten nahm Mappus in der neusten Infratest-dimap-Umfrage den radikalen Schwenk offensichtlich nicht ab und zum ersten Mal überholte SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid Ministerpräsident Mappus bei den Sympathiewerten. Die Grünen in Baden-Württemberg profitierten eindeutig von der Anti-Atomkraft Stimmung und konnten bisweilen wieder die SPD überflügeln.

Steht nun Baden-Württemberg vor einem wirklichen Machtwechsel nach 57 Jahren? Auch wenn die Umfragen gegenwärtig darauf hindeuten, dass sich ein Machtwechsel abzeichnen könnte, sollte man mit vorschnellen Interpretationen vorsichtig sein. Die CDU in Baden-Württemberg und ihre Spitzenpolitiker konnten ohne Zweifel über Jahrzehnte hinweg erfolgreich die strukturellen Vorteile im Land für sich nutzen.

Ob sich die CDU allerdings in Zeiten des hochpolitisierten Bürgerprotests zu Stuttgart 21 und der Atompolitik auf diese strukturellen Vorteile noch stützen kann, scheint bei dieser Landtagswahl eher fraglich. Am 27. März wird sich jedenfalls zeigen, ob CDU und FDP/DVP erneut die Amtsgeschäfte weiterführen können oder ob die Baden-Württemberger tatsächlich alles können – außer Hochdeutsch. Nämlich auch Machtwechsel.

Jens Gmeiner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.