Wiener SPÖ: Im Labor

Beitrag verfasst von: Matthias Micus

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[analysiert]: Matthias Micus über die österreichischen Sozialdemokraten nach der Gemeinderatswahl in Wien.

Österreich sei ein politisches Labor, in dem sich schon heute Entwicklungen zeigten und studieren ließen, die in anderen europäischen Ländern noch bevorstünden. So jedenfalls hieß es seit dem Aufstieg der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) von 1986 an regelmäßig in den Medien; dergleichen vernimmt man auch gegenwärtig wieder. Wer so spricht, der mutmaßt den unaufhaltsamen Siegeszug der „Politik der Angst“ (Ruth Wodak) und prognostiziert einen anhaltenden Abschwung der Sozialdemokraten. Für die Richtigkeit solcher Erwartungen gibt es im zeitgenössischen Österreich viele Indizien.

Die Unzufriedenheit mit der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung ist in der Bevölkerung groß. Die Mitgliederentwicklung der SPÖ kommt einem permanenten Aderlass gleich – und korrespondiert insofern mit dem Abschneiden der Partei bei Wahlen. Unter der Ägide des aktuellen Parteivorsitzenden Werner Faymann verlor die sozialdemokratische SPÖ zuletzt bei 17 von 19 Urnengängen auf Landes- und Bundesebene Stimmen, neunmal drastische sechs Prozentpunkte und mehr, in Oberösterreich (2009) und Salzburg (2013) gar zweistellig. Im Jahr 2015 setzten sich die Verluste der SPÖ auf hohem Niveau fort, zunächst in der Steiermark (minus neun Prozentpunkte) und im Burgenland (minus 6,3 Prozentpunkte), sodann in Oberösterreich (minus 6,3 Prozentpunkte).

Jetzt hat am vergangenen Sonntag Wien gewählt und auch hier zeigt sich das zuletzt vertraut gewordene Bild: Die FPÖ steigerte ihr Ergebnis um 5,3 Prozentpunkte auf 31 Prozent, die SPÖ verlor 4,8 Prozentpunkte und landete mit 39,5 Prozent nach 1996 zum zweiten Mal seit 1945 unter der Vierzig-Prozent-Marke. Immerhin werden die Sozialdemokraten mit großer Sicherheit auch künftig den Regierungschef in der Hauptstadt, zugleich wie in Deutschland Bremen, Hamburg und Berlin ein eigenes Bundesland, stellen. Das schaffen sie derzeit neben Wien nur noch im Burgenland und in Kärnten; allein in eben diesen Bundesländern durchbricht die SPÖ nach wie vor den Dreißig-Prozent-Turm, in dem sie ansonsten mittlerweile allerorten gefangen ist.

Im Speziellen scheinen die Sozialdemokraten dabei die Arbeiterschaft auf unabsehbare Zeit verloren zu haben. In Oberösterreich kamen sie am 27. September 2015 in dieser Gruppe auf 15 Prozent und landeten hier als drittstärkste Kraft noch hinter der ÖVP. Und selbst in Wien, dieser sozialdemokratischen Mustermetropole, in der die Partei seit sieben Jahrzehnten ununterbrochen regiert, zwischen 1954 und 1991 mit Stimmenanteilen von durchweg mehr als fünfzig Prozent, hat die SPÖ in ihrer traditionellen Kernklientel mit nur mehr 31 Prozent nicht einmal ein Drittel der abgegebenen Stimmen erreicht. Die FPÖ hingegen hat bei den Arbeitern mit 61 Prozent (Oberösterreich) bzw. 53 Prozent (Wien) jeweils absolute Mehrheiten und mit großem Abstand den ersten Platz errungen.

Sicher: Ganz neu ist dieses Phänomen nicht. Bereits Ende der 1990er Jahre, auf dem Gipfelpunkt der Ära ihres 2008 tödlich verunglückten Vorsitzenden Jörg Haider, überholte die FPÖ die Sozialdemokraten bei der Nationalratswahl 1999 in der Gruppe der Arbeiterwähler. Bemerkenswert ist aber doch, dass sich die Auszehrung der SPÖ in diesem Gesellschaftssegment trotz aller Turbulenzen, welche die Freiheitlichen seitdem durchlebt haben – trotz Führungswechseln, Parteispaltung und Korruptionsskandalen –, kaum gebremst fortgesetzt hat. 1996, als die FPÖ bei der Wien-Wahl mit 28 Prozent schon einmal annähernd so stark war wie heute, erregten im Besonderen ihre Werte im Gemeindebau die Gemüter. Ausgerechnet in den städtischen Wohnanlagen, den steinernen Leistungsbeweisen sozialdemokratischer Kommunalpolitik und bis dato mächtigsten Festungen der Hauptstadt-SPÖ, erzielten Haiders Mannen teils überdurchschnittliche Ergebnisse, etwa in der Großfeldsiedlung mit fast 33 Prozent; oder – und dies wurde besonders oft erwähnt, weil er bis heute als Symbol sozialdemokratischen Behauptungswillens gegen den Austrofaschismus der Zwischenkriegszeit selbst im Angesicht eines übermächtigen Feindes firmiert – im Karl-Marx-Hof in Wien-Döbling mit dreißig Prozent.

Wohl tragen die Anlagen bis heute die Namen der roten Ahnen: Neben dem Karl-Marx-Hof gibt es etwa den Friedrich-Engels-Hof, den Lassalle-Hof und den Bebel-Hof. Auch sind die in den städtischen Wohnhausanlagen lebenden Österreicher unverändert eher im unteren Teil der Sozialskala angesiedelt: „Nur 16 Prozent der Gemeindebaumieter haben Matura (im Wien-Schnitt sind es 30). 36 Prozent müssen mit weniger als 1000 Euro im Monat auskommen (Wien-Schnitt: 25 Prozent), die Arbeitslosenrate in den Gemeindebauten ist meist doppelt so hoch wie in Wien insgesamt.“[1] Bei Wahlen kommt das der SPÖ nicht mehr zugute: Statt punktuell dreißig bis 33 Prozent zu erhalten, gewann die FPÖ am letzten Sonntag 47 Prozent der Stimmen im gesamten Gemeindebau, während die SPÖ ebenda mit 42 Prozent erstmalig nicht mehr den ersten Platz belegte.[2]

Weniger denn je auch scheint die SPÖ überhaupt noch auf die Arbeiterwähler und ihre Rückeroberung zu setzen. Die in Richtung FPÖ verloren gegangenen Wähler, so die Diagnose der Wahlkampfstrategen des Bürgermeisters Michael Häupl, werde man ohnehin nicht überzeugen können. Stattdessen richtete sich das Augenmerk auf die Wähler im Grenzbereich zur christdemokratischen ÖVP, zu den Grünen und den liberalen Neos in den bürgerlichen Bezirken, im Volksmund „Bobostan“ gerufen.[3] Mit Erfolg, denn von der ÖVP gewannen die Sozialdemokraten 7.000, von den Grünen gar 9.000 Stimmen hinzu. Und während die ÖVP und die Grünen 18 bzw. elf Prozent ihrer Wähler von 2010 an die erstmals in Wien kandidierenden Neos verloren haben, ist der Abfluss von der SPÖ mit einem Prozent vernachlässigbar. Kurzum: Die guten Resultate in den innerstädtischen Mittelschicht-Bezirken und im Westen der Stadt haben die Verluste in den großen Arbeiterbezirken im Süden und Nordosten in Grenzen gehalten.

Weit über Österreich hinaus ist das für die europäische Sozialdemokratie ein Fanal. Selbst die besonders traditionsstolzen, mitgliederstarken, milieuverwurzelten österreichischen Sozialdemokraten haben die Hoffnung aufgegeben, das untere Drittel der Gesellschaft im Allgemeinen, die Restarbeiterschaft im Speziellen wiederzugewinnen; sie akzeptieren, eine vorzugsweise von Lehrern, Akademikern und Beamten gewählte Partei der öffentlich bediensteten Mittelschicht und des gemäßigt-linken Establishments zu sein. Die bisweilen aufkommende Forderung, an die eigene Geschichte anzuknüpfen und wieder Arbeiterpartei zu sein, ist bloße Nostalgie.

Dass gegenwärtig kräftige Impulse zur Korrektur des überkommenen Selbstbildes der sozialdemokratischen Parteien ausgerechnet aus Österreich von der SPÖ kommen, ist freilich überraschend. Galten bislang doch eine an Erfolgen reiche Parteigeschichte – erwähnt sei nur die europaweit einmalige Serie absoluter Stimmenmehrheiten der SPÖ bei drei aufeinanderfolgenden Nationalratswahlen in den 1970er Jahren – sowie ein zahlenstarker Funktionärskörper – der kaum irgendwo einen Umfang wie in der SPÖ aufweisen dürfte – als Ursachen „pathologischen Lernens“, das in Veränderungsresistenz und Strukturkonservatismus resultierte.

Einerseits. Andererseits bilden eine kraftvolle Organisation, fortbestehende politische Relevanz und ein ungeachtet diffundierender Apathie immer noch diskussionsfähiger Funktionärskörper elementare Voraussetzungen für die Fähigkeit zur und die Erfolgsaussicht von Parteireformen. Insofern ist der vielgescholtenen Organisationsstärke zu verdanken, dass sich in der SPÖ zuletzt diverse Reformzirkel gebildet haben, die sowohl inhaltlich als auch personell grundlegende Veränderungen propagieren. Genannt seien nur die aus der Mitgliedschaft heraus entstandenen Initiativen „Kompass“ und „Wir wollen mehr“ (die eine im Juni 2015, die andere gerade eben im Oktober) sowie die „Sektion 8“.

Neben strategischen Überlegungen dürfte ebenso dem Aktivisteneinfluss zu verdanken sein, dass sich Häupl im Vorfeld der Hauptstadt-Wahl zum unerschütterlichen Garanten einer Wiener Willkommenskultur aufgeschwungen hat. Die Wahlinterpreten sind sich einig, dass dieser Kurs in der Flüchtlingspolitik und die daraus gespeiste duellartige Polarisierung zwischen dem Sozialdemokraten Häupl und dem Freiheitlichen Heinz-Christian Strache der SPÖ bei der Wahl die Führung gerettet hat. Darüber hinaus könnte nebenbei ein adäquates Identitätsmerkmal für eine Partei des linken Bürgertums gefunden haben, dem neben einer mitfühlenden Sozialpolitik auch eine weltoffene Innenpolitik ein Anliegen ist – eine politische Ausrichtung also, die für eine Arbeiterpartei erheblich konfliktträchtiger und begründungspflichtiger wäre.

Der Gemeindebau und die Außenbezirke Wiens lassen sich vor diesem Hintergrund nur mit einer flächendeckenden, öffentlich sichtbaren Organisation halten. Gerade angesichts einer linken Zuwanderungs- und Gesellschaftspolitik braucht die SPÖ alltagspräsente Fußtruppen, welche die Volksnähe der Partei sicherstellen und deren Leistungen zur Sprache bringen. Direkt nach der Wien-Wahl griff Häupl einen länger schon kursierenden Vorschlag auf und kündigte an, speziell in den außerstädtischen Flächenbezirken neue Ansprechpartner zu installieren, die sich für die SPÖ um die Wiener kümmern sollen. „Die müssen zuhören können, aber auch Problemlösungen bieten.“[4] Und v.a. werden sie aus der Mitgliedschaft der SPÖ kommen müssen.

Gelingt dieser Kurswechsel, könnte sich Österreich abermals als politisches Labor erweisen – diesmal für einen links-bürgerlichen Sozialdemokratismus.

Dr. Matthias Micus ist Akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Lackner, Herbert: Der Kampf um Wien: Warum die Wahl im Gemeindebau entschieden wird, in: Profil, 25.09.2010.

[2] Vgl. SORA/ISA: Wahlanalyse Gemeinderatswahl Wien 2015, URL: http://www.strategieanalysen.at/bg/isa_sora_wahlanalyse_wien_2015.pdf [eingesehen am 13.10.2015].

[3] Hierzu und im Folgenden siehe Pink, Oliver: Analyse: Die SPÖ ist heute eine andere Partei, in: Die Presse, 12.10.2015.

[4] Zitiert nach Natmessnig, Elias: Häupl krempelt Wiener SPÖ um, in: Kurier, 12.10.2015.