Wie futuristisch ist die Gegenwart?

[analysiert]: Matthias Micus und Katharina Rahlf über Fortschrittsrhetorik und Zukunftsangst im „Futuristischen Manifest“.

Als sich kürzlich die Veröffentlichung des „Futuristischen Manifestes“ zum hundertsten Mal jährte, hatte es den Anschein, die exaltierten, fiebrigen Visionen dieses Schriftstückes seien mittlerweile weitgehend realisiert. Von den „futuristischen Spuren“, welche in der Gegenwart nahezu überall gefunden werden könnten, war da die Rede, oder davon, dass dieses „Evangelium der Moderne“ fast alles Heutige vorweggenommen hätte.

Nun ist es müßig, darüber zu spekulieren, ob die Gegenwartsgesellschaften tatsächlich Inkarnationen der Fortschrittlichkeit sind. Einerseits sind wir weit davon entfernt, so zu leben, wie es sich die Sciencefiction-Literaten und Zukunftsseher aller Zeiten vorgestellt haben. Andererseits: „Fortschritt“ ist stets relativ – und findet ebenso selbstverständlich immer statt.

Ununterbrochen verschieben sich die Horizonte des Bewusstseins, werden neue Beobachtungen gemacht, bessere Maschinen entwickelt und Krankheiten erstmals geheilt. Ebenso richtig ist auch, dass es in der Politik von Fortschrittsrhetorik nur so wimmelt. Sämtliche politische Parteien propagieren den Wandel, fordern Reformen und überbieten sich mit Erneuerungsvorschlägen, die in eine wahlweise als ökologisch, egalitär, partizipativ oder meritokratisch konnotierte Moderne führen sollen.

Insofern erscheint das Lob der prophetischen Qualität des Futuristischen Manifestes nicht vollkommen abwegig. Und in zumindest einem Punkt war der Exponent des futuristischen Denkens und Initiator der futuristischen Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti, in der Tat ein Avantgardist der massenmedialen Gegenwartsrealität. Bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte Marinetti die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie verinnerlicht. Virtuos bediente er sich der verschiedenen Kommunikationsmittel, um für seine Ideen zu werben. Massenhaft ließ er seine Texte in Straßen sowie auf Plätzen plakatieren und in den Innenstädten verteilen, ebenso engagierte er professionelle Sprecher, die seine Leitsätze effektvoll verlasen.

Auch vor wohlkalkulierten Provokationen und Tabubrüchen schreckte Marinetti nicht zurück. Sei es, dass er Soirées veranstaltete, bei denen rituell die Weingläser nach dem letzten Schluck an die Wand geschmissen wurden, oder dass er Kritiker vor aller Öffentlichkeit demonstrativ ohrfeigte. Die Praktiken heutiger Politiker, Presseredaktionen persönlich aufzusuchen und vertrauliche Kontakte auf Wechselseitigkeit mit Meinungsmultiplikatoren zu pflegen, beherrschte Marinetti bereits vor über hundert Jahren.

Im Übrigen: Das Vorbild für Willy Brandts legendären Wahlkampf des Jahres 1961, als der spätere sozialdemokratische Bundeskanzler im offenen Cabrio durch das Land tourte, war recht eigentlich nicht der amerikanische Präsident John F. Kennedy, sondern besagter Marinetti, der bereits 1909 im offenen Wagen durch Berlin gefahren war, dabei unter dem Ruf „Eviva Futurista“ Flugblätter unter den verblüfften Schaulustigen verteilend. Kurzum: In seinen Reklamemethoden erscheint Marinetti weniger als Kind der embryonalen Mediengesellschaft um 1900 denn der fortgeschrittenen Telekratie des 21. Jahrhunderts.

Doch kann andererseits der Futurismus insgesamt nicht losgelöst von seinem Entstehungshintergrund gedacht werden. Die Technikeuphorie des Futurismus gründet in den technischen Sprüngen der sogenannten „zweiten industriellen Revolution“ um die Jahrhundertwende. Wenige Jahre nach der Erfindung der Glühbirne hatte um 1900 eine regelrechte „Lichtmanie“ die europäischen Großstädte erfasst, die nun um den imaginären Titel der „Lichtstadt“ wetteiferten. Auch die Motorisierung machte – wiederum in erster Linie in den Metropolen – rasante Fortschritte, bereits 1914 hatten im Berliner Stadtverkehr motorisierte „Taxis“ mit von Pferden gezogenen Droschken zahlenmäßig gleichgezogen, nachdem es ein gutes Jahrzehnt zuvor für viele Menschen noch einer Sensation gleichgekommen wäre, ein Kraftfahrzeug zu Gesicht zu bekommen. Ein heftiges „Geschwindigkeitsfieber“ erfasste das beginnende 20. Jahrhundert, Piloten und Rennfahrer waren Volkshelden, Wettrennen eine Obsession der Zeit.

In den Jahren vor und nach 1900 erkannten die selbstbewussten bürgerlichen Mittelschichten einander daran, dass sie „modern“ sein wollten, der Glaube an die unablässige Verbesserung des Lebens durch technische Innovationen war ungetrübt – erst durch die Ur-Katastrophe des Ersten Weltkrieges sollte die deterministische Erwartung eines allgemeingültigen Entwicklungsgesetzes zum Höheren und Besseren getrübt werden. Die Gesellschaften der vorvergangenen Jahrhundertwende waren zudem sehr jung, der Futurismus nicht zuletzt ein Generationsphänomen, getragen von denjenigen, die im Verlauf der friedlichen und optimistischen 1880er und 1890er Jahre aufgewachsen waren.

Das Lebensgefühl zumindest der urbanen Teile dieser Kohorten war erstmals in der Geschichte von der industriellen Konsumgesellschaft geprägt, sie waren von klein auf mit den Bedingungen eines beschleunigten Wandels und der permanenten Entwertung der „Welt von gestern“ konfrontiert. „Die Geschichte“, dieser Ausspruch Henry Fords korrespondierte mit ihren Alltagserfahrungen, „ist mehr oder weniger Schwachsinn. Sie ist Tradition. Wir wollen keine Tradition. Wir wollen in der Gegenwart leben, und die einzige Geschichte, die mich auch nur im entferntesten interessiert, ist die Geschichte, die wir heute schreiben.“

Diese optimistische Aufbruchsstimmung fand ihr Korrelat in einem emphatischen Militarismus, insbesondere in verspäteten, ihren weltpolitischen Platz noch suchenden Nationalstaaten mit einer zählebigen politisch-sozialen Ordnung, die obendrein im Widerspruch zur wirtschaftlichen Dynamik stand. Gerade unter solchen Bedingungen war in jungen Künstlerkreisen die Feier der zerstörerischen Potentiale der Technik, die alles in Schutt und Asche legen konnte, mithin eine Verherrlichung des Krieges en vogue. Kriege, Revolutionen, fundamentale Umwälzungen – dadurch erhoffte man sich die Sprengung des Gordischen Problemknotens und einen Ausweg aus der spießig-philiströsen Biederkeit der Elterngeneration. Wie überhaupt die Welle von Revolutionen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts – in Russland 1905, im Iran 1905/06, im Osmanischen Reich 1908, Portugal 1910, Mexiko 1910 und China 1911 – den systemüberwindenden Umsturz machbar scheinen ließ.

Nur: Nichts davon markiert heute noch eine verbreitete Stimmung in den westlichen Gesellschaften. Von Revolutionen träumen allenfalls noch sektiererische Zirkel unverbesserlicher Ewiggestriger, das Wissen um die „Grenzen des Wachstums“, mit anderen Worten: die Labilität des Ökosystems, hat die Gefahren des ständigen Höher, Schneller, Weiter hervortreten lassen – wie überhaupt großangelegte Bauprojekte verlässlich auf den vehementen Widerstand der Anwohner stoßen. Erst recht sind die Gegenwartsgesellschaften Westeuropas nicht jung, stattdessen altern und überaltern sie sukzessive, durch ein Übermaß an Energie, Veränderungsfreude oder auch Aufbruchsverlangen zeichneten sie sich zuletzt daher keineswegs aus.

Dennoch hält die Geschichte des Futurismus auch für die heutigen politischen Akteure und einige der aktuellen Debatten hilfreiche Lehren parat. Erstens: Die Strategie der bloßen Provokation verlangt nach einer ständigen Steigerung der Skandale und Tabubrüche und verliert rasch ihre Wirksamkeit. Marinetti provozierte durch schamlose Gesten in der Öffentlichkeit, er traktierte Kritiker gar mit Schlägen, nichts war ihm zu bunt, laut und schrill – doch eine nachhaltige Wirkung vermochte seine Bewegung trotzdem, oder gerade deswegen, nicht zu erzielen. Zweitens und damit zusammenhängend: Die Futuristen propagierten ein ausgesprochen anspruchsloses Modernitätsverständnis. Jede Veränderung war ihnen gleichviel, jeder Wandel gleichermaßen modern, eben darin liegt ein weiterer Grund ihrer gesellschaftlichen Folgelosigkeit begründet.

Wird in diesem Sinne die „Moderne“ als Schrumpfform von „Reform“ verstanden, betrachtet man also unter sozialen Reformen nur solche Veränderungen, die zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen beitragen, unter Modernisierung aber jegliche Art der Innovation, dann wird die Problematik der aktuellen Modernitätsrhetorik der politischen Parteien und insbesondere der Sozialdemokratien verständlich. Aus sozial geerdeten Reformbewegungen sind sie zu gesellschaftlich abgekoppelten und als elitär perzipierten Organisationen degeneriert.

Und drittens: Als selbsternannte Avantgarde war der Futurismus ein Bluff. In ihrer radikalen Technikeuphorie und Modernebegeisterung schrieben sie um die Jahrhundertwende nur einen lang anhaltenden Trend fort, der das gesamte 19. Jahrhundert durchzog. Zu dieser Zeit lehnte sich die eigentliche Avantgarde, auch die künstlerische, aber bereits gegen diesen Imperativ der Moderne und das „Joch der galoppierenden Industriegesellschaft“ auf. Die Futuristen spitzten die Mehrheitsmeinung der Jahrhundertwende zu, avantgardistisch war zu dieser Zeit eher das Unbehagen über bestimmte Begleiterscheinungen und Äußerungen der industriellen Zivilisation.

Avantgardistisch war nicht die Verherrlichung der Metropole, sondern im Gegenteil die Aversion gegen die große, laute, hektische, vulgäre Stadt, die den Kritikern der Moderne als Inbegriff einer anonymisierten, atomisierten, aus allen gewachsenen menschlich-sozialen Bindungen gelösten und daher moralisch gefährdeten Lebensform galt; avantgardistisch war die Idealisierung und romantische Verklärung des Dorfes. In den Worten Wilhelm Diltheys:

„Neben der herrschenden, großen, durchgehenden Tendenz, die der Zeit ihren Charakter gibt, bestehen andere, die sich ihr entgegensetzen. Sie streben Altes zu konservieren, sie bemerken die nachteiligen Folgen der Einseitigkeit des Zeitgeistes und wenden sich gegen ihn; wenn aber dann ein Schöpferisches, Neues hervortritt, das aus einem anderen Gefühl des Lebens entspringt, dann beginnt mitten in diesem Zeitraum die Bewegung, die bestimmt ist, eine neue Zeit heraufzuführen.“

Der Charakter der Zeit aber war der Modernismus, das Neue die Flucht in Irrationalismen, Vergangenheitsverklärung und Katharsisphantasien.

Auf die Gegenwart gemünzt heißt das: Nicht das ist modern, was allgemein und lautstark als Sachzwang und Entwicklungsgesetz deklariert wird, auch nicht die exaltierte Zuspitzung solcher Postulate. Um wirklich fortschrittlich zu sein, muss man mit wachem Blick unermüdlich die Gesellschaft inspizieren, muss man sich ein sensibles Gespür für untergründige Verschiebungen bewahren und stets offen für Kritik sein. Auch daran scheint es den progressiven Parteien heutzutage vielfach zu mangeln.

Matthias Micus ist akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Katharina Rahlf arbeitet ebendort als wissenschaftliche Mitarbeiterin.