Wie die Gesellschaft, so die Politik

[analysiert]: Franz Walter über die politische und gesellschaftliche Lethargie im Wahljahr 2013

Unernst ist die Lage in Europa gewiss nicht. Die Gefahr von aggressiv renationalistischen Stimmungen ist weiterhin virulent. Einigen Ländern droht der ökonomische Kollaps. Andere Nationen fürchten die Inflation, wenn man den wachstumsschwachen Volkswirtschaften zu sehr mit Anreizen entgegenkäme. Die Gesellschaften spalten sich weiter durch tiefe Wohlstandsgräben zwischen den minoritären Eliten oben und einem keineswegs schmalen Sockel unten. Wie man mit dem Problem der Pflege in den Jahren 2030 bis 2040 im hochbetagten Europa umgehen wird, weiß niemand so recht. Unklar ist, mit welchen Mitteln die maroden Infrastrukturen und öffentlichen Güter erneuert werden sollen. So gesehen: Themen, die ernsthaft erörtert, strittig diskutiert und konzeptionell angegangen werden sollten, gibt es zweifellos genug. Zugleich aber ist überdeutlich zu spüren, dass die reale politische Debatte im Land seltsam schlaff ist, ohne Inspiration und Emotion.

Sicher, Sozialdemokraten konnten sich zuletzt an Wahlabenden in den Bundesländern diebisch freuen, wenn die CDU-Anhänger aufgrund gravierender Verluste ihrer Partei tieftraurig in die Kamera schauen. Grüne gönnten den Freidemokraten die heftigsten Einbrüche; Liberale jauchzten bei Verlusten der Öko-Partei. In der Schadenfreude und Häme sind die alten politischen Lager noch ordentlich sortiert. Aber sonst? Kann man noch irgendeinen Sozialdemokraten erhitzt mit einem Christdemokraten disputieren sehen? Worüber sollten sie sich aber auch streiten? Über den Atomausstieg? Über Steuer- oder Sparpolitik? Über den Erhalt des Sozialstaats? Gar über Europa? Eine grundsätzliche Differenz gibt es in all diesen Fragen nicht mehr.

Und als Parteien an der Regierung tun sich zwischen ihnen erst recht keine tiefgreifenden Gegensätzlichkeiten auf, welche mit der von Oppositionsparteien gerne beschworenen Formel vom „Politikwechsel“ insinuiert werden. Eher ist es paradoxerweise so, dass in christdemokratischen Regierungszeiten sozialdemokratische Vorstellungen eine höhere Realisierungschance besitzen, während sozialdemokratische Kabinette häufig zu übereifrigen Verfechtern von Law and Order werden und – um nicht zu altmodisch gewerkschaftstümlich zu erscheinen – den Sozialstaat stärker entkräften, den Märkten großzügigere Räume gewähren, den Reichen steuerpolitisch weniger zumuten als die „Bürgerlichen“.

Für die Sozialdemokratie könnte das Jahr 2013 bitter, ja tragisch werden. Gewiss, man hat in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren immer wieder düstere Grabgesänge auf diese Partei anstimmen hören. Verschwunden ist sie dennoch nicht. Aber mächtig geschrumpft ist sie schon – nicht nur an Wählern, Mitgliedern, Funktionären, sondern vor allem an imponierendem Eigensinn, an innerer Überzeugung und ausstrahlender Begeisterung von sich selbst. Noch nie hatte die CDU als Regierungspartei – nicht einmal in ihren Glanzjahren 1953 und 1957 – in der zweiten Hälfte einer Legislaturperiode nahezu konstant derart weit vor einer sozialdemokratischen Partei in der Opposition gelegen wie gegenwärtig, wie seit 2012. Dabei waren die Christdemokraten wohl selten in ihrer Geschichte personell und programmatisch so dehydriert wie gerade jetzt.

Doch die Sozialdemokraten können derzeit keinen Nutzen aus der Schwäche ihres ewigen Gegners ziehen, was ziemlich unmissverständlich anzeigt, wie dürftig die Substanz auch bei ihnen mittlerweile geworden ist. Durchaus auch in personeller Hinsicht. Es spielt zwar im Grunde alles keine Rolle mehr, dennoch ist der Blick zurück auf die Inthronisierung des aktuellen Kanzlerkandidaten erhellend und beispielhaft für den unbefriedigenden Zustand der Sozialdemokratie. Nach der derben Bundestagswahlniederlage 2009 hat die Partei, angetrieben von ihrem neuen Vorsitzenden, „Zukunftswerkstätten“ eingerichtet, eine Kommission „Demokratie und Freiheit: Bürgergesellschaft und Beteiligung in Deutschland“ geschaffen.

Indes: Hat man jemals etwas von Ergebnissen dieser Kommission gehört? Hat jemals ein prominenter Sozialdemokrat deren Beschlüsse auch nur eine Sekunde ernst genommen? Als die ersten Erfolge bei Landtagswahlen zu verbuchen waren, setzte man die „Selbstbeschäftigungstherapien“ – wie die hartgesottenen Parteiprofis aus dem Berliner Inner Circle dergleichen Kommissionsbetriebsamkeit sarkastisch charakterisieren – gleichgültig ab. Die Kanzlerkandidatenkür hätte, wären all die Diskussionsergebnisse der Expertenrunden auch nur ein bisschen relevant, von den Mitgliedern nach einer zweifelsohne harten, aber sicher ergiebigen Diskussionstour durch die Parteigliederungen erfolgen müssen. Aber als es so weit war, entschied wieder die Kleinclique, gejagt vom Druck Hamburger Wochenzeitungen und der patriarchalischen Protektion eines schachspielenden Alt-Kanzlers. Doch die traurigste Seite des Vorgangs war, dass kaum jemand in der Partei deshalb aufschrie, sich lauthals empörte, auf der Partizipation beharrte, die in jeder Festtagsansprache von Sozialdemokraten mit höchstem Pathos und gegen die „Konservativen“ eingefordert wird.

Wie ratlos die SPD gegenwärtig ist, spiegelt trefflich die eher unterschwellig geführte Kontroverse darüber, wie man nachträglich, ob als Heil oder Übel, die Agendareformen aus der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zu bewerten hat. Sollen sie jetzt stolz auf die Agenda sein? Oder lassen sich durch kräftige Korrekturen der damaligen Sozialreformen von Rot-Grün enttäuschte und seither abtrünnige Wähler zurückholen? Die Sozialdemokraten wissen es nicht so recht. Auf der einen Seite steckt ihnen der Absturz bei den Bundestagswahlen 2009 noch tief in den Knochen. Auf der anderen Seite aber lesen sie seit Monaten in etlichen Kommentaren, dass es in Deutschland 2013 ökonomisch deshalb passabel aussieht, weil Schröder die Kraft zur Veränderung der Sozialsysteme aufgebracht habe.

Doch natürlich wissen auch die Gabriels, dass sich gerade in den sieben rot-grünen Jahren Ungleichheit und Armut spektakulär ausbreiteten, stärker als in vergleichbaren Ländern. Die Hartz-Reformen führten zur „Zwangsarbeit“, die „Mini-Jobs“ zu Elendslöhnen und zu einer weiteren Benachteiligung sozial schlecht gestellter Frauen, die zu etlichen hunderttausenden für weniger als 6 € pro Stunde sich zu verdingen genötigt waren. Denn der Einführung des Mindestlohns widersetzten sich Sozialdemokraten und Grüne seinerzeit. Die ehrgeizige Steuerreform von Schröder mehrte das Vermögen der besitzenden Klasse, schwächte dadurch allerdings die Gestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Bereich, der in den Reformjahren beim Beschäftigtenanteil um fast sieben Prozent schrumpfte. Der entscheidende Schwund vollzog sich in den Kommunen, die infolgedessen Sozialzentren, Schwimmbäder und Bibliotheken schließen mussten. Die Kaufkraft der Deutschen sank ebenfalls in dieser Zeit. Allein die Nachfrage der Schwellenländer nach deutschen Industrieprodukten wirkte investitionsfördernd.

Heiterer wirkt demgegenüber die CDU. Das wird allgemein auf die Popularität der Kanzlerin zurückgeführt. Selbst Kritiker von Angela Merkel attestieren ihr eine beachtliche Leistung bei der schleichenden Transformation der Christdemokratie. In substantiellen gesellschaftspolitischen Fragen ist die Merkel-CDU inzwischen grundverschieden von der Partei Adenauers und Kohls. In der Energie-, Wehrpflicht-, Familien, selbst Sozial- und Schulpolitik hat sich die Kanzlerinnenpartei ohne aufwühlende Debatten teils den Grünen, teils den Sozialdemokraten lässig angepasst.

Die Resttruppe an Konservativen in der CDU versteht die Welt nicht mehr, hadert wohl introvertiert und für sich mit Merkel, artikuliert mittlerweile aber die Kritik nicht mehr laut. Zum einen verfügt das geschrumpfte Traditionsbataillon nicht über auch nur halbwegs plausible Gegenentwürfe zu Merkel, zum anderen imponiert den Altkonservativen dann doch die kalte und eiserne Machtpolitik der Regierungschefin. Macht ist immer noch die raison d’être klassischer konservativer Bürgerlichkeit.

Insofern darf man die geschickte Adaption Merkels an veränderte Stimmungslagen und Lebensweisen der Bürger nicht zu übertrieben als modernen Antikonservatismus zelebrieren. Konservative – die nie Reaktionäre sein mochten – hatten meist eine feine Witterung für Mentalitätswandel und orientierten sich häufig elastisch um, wenn Stimmungen wechselten, um ja nicht ins machtpolitische Hintertreffen zu geraten. Viel wichtiger als ideologisches Klammern war Konservativen ihre Anthropologie. Und in dieser anthropologischen Sicht auf Gesellschaft und Politik ist Angela Merkel durchaus konservativ. Gerade deshalb reüssiert die Kanzlerin in einem Land, dessen Bürger alt geworden sind, dazu in einer Situation, die mit Blick auf die Finanzwirtschaft gerade älteren Wählern recht bedrohlich erscheint.

Solche Konstellationen bilden nachgerade den Kairos für den konservativen Appell. Es geht in derartigen Momenten nicht um fiktionale Bilder eines Zukunftsexperiments. Die Kanzlerin ist die kongeniale Repräsentantin eines daraus schöpfenden Zeitgeistes. Mit ihrer naturwissenschaftlichen Aura unterstreicht sie, dass sie in der Politik nichts von Luftschlössern, Fantasiegebilden, Literatenprojekten hält. Ihr gilt nur das Reale, das jeder sieht– ein geradezu klassisches Muster des konservativen Pragmatismus. Konservative wähnen sich nicht als Baumeister neuer menschlicher Ordnungen. Auch Merkel präsentiert sich nicht (mehr) als Demiurgin einer neuen bürgerlichen Freiheit, sondern als Monteurin, die Schäden beseitigt, als Klempnerin, die repariert, ebenfalls als Gärtnerin, die schneidet, lichtet, aber auch gießt und pflegt, was gut zu gedeihen und zu blühen verspricht. Mehr haben sich Konservative vom Politischen nie versprochen.

Konservative haben in der Wahlgeschichte vor allem dann gewonnen, wenn sie das Anti-Chaos-Argument wirksam ins Feld bringen konnten. Dass Menschen überwiegend in berechenbarer Ordnung zu leben wünschen, hat Reformisten und Revolutionären in der Regel geschadet, Konservativen indessen nachhaltig genutzt. Als die schwarz-gelbe Regierung zwischen 2009 und 2011 ihrerseits Produzentin von Konfusion war, schlitterten die Werte der beiden Parteien tief in den Keller. Seither aber achtet Merkel darauf, dass zumindest in ihrer Partei nicht groß gestritten wird, kein programmatischer Zwist nach außen dringt, vor allem  auch kein Konkurrent ihrer selbst in der Partei unterwegs sein darf. Denn Ordnung benötigt Autorität. Und Autorität ist in dem Moment schon beschädigt, wenn Kontroversen nicht beherrschbar sind, Diadochen zu scharren beginnen.

Kurzum: In ihrer Methode ist Angela Merkel durch und durch konservativ. Ideologisch ist sie ganz indifferent. Nur: Wenn die Methode mal nicht greift, dann stiften auch keine Ideen oder Loyalitäten noch Rückhalt. Dann droht das pure Nichts. Schon jetzt deuten sich die Defizite hinreichend stark, eigentlich schrill alarmierend für die CDU an. Die Großstädte: Diaspora für die Union. Die Flächenländer: fortlaufende Machterosion für die Christdemokratie. Talente und Begabungen: so gut wie nicht zu erkennen. Ein christdemokratisches Politik- und Gesellschaftsmodell: perdu.

Zusammen: In diesem Wahljahr sucht man vergebens nach dem vitalistischen Politikcharakter, nach der aufwühlenden gesellschaftlichen Debatte, nach dem elektrisierenden politischen Zentralthema. Die Deutschen im Jahre 2013 sind einfach nicht mehr so wie zu Zeiten der Bundestagswahlkämpfe in den Jahren 1972, 1976 oder auch noch 1980. Sie sind erheblich älter geworden, neigen infolgedessen keineswegs zu großen Aufbrüchen, schätzen nicht beunruhigende Polarisierung und inkommode Mobilisierungsappelle.

So hat die deutsche Gesellschaft bislang einen Wahlkampf, der ihre Mentalität durchaus angemessen spiegelt: Ohne drängende Leidenschaft, ohne stürmische Energien, ohne faszinierende Inspirationen, ohne elektrisierende Zukunftsentwürfe. Nichts davon allerdings hat die Parteien von außen affiziert, welche ja seit langem stets Einstellungen und gesellschaftlich zirkulierende Metaphern absorbieren, die ihnen vom Grundgesetz zugewiesene Willensbildung aber kaum mehr zu leisten vermögen. Man wird in den verbleibenden Wahlkampfwochen weiterhin über die Umfragewerte der Spitzenkandidaten müde Traktätchen verfassen, etwas eifriger über Koalitionsvarianten orakeln, wird ein bisschen Lagerwahlkampf simulieren, ohne reale und elementare Lagerkontroversen entfalten zu können. So ist die Politik. So ist aber auch die deutsche Gesellschaft im Jahr 2013.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Dieser Beitrag eröffnet unseren Schwerpunkt zum Thema Wahlen 2013.