Wider die rechtsextreme „Versteinerung“

Beitrag verfasst von: Luisa Rolfes
[kommentiert]: Luisa Rolfes zum Potenzial eines kommunalpolitischen Präventionsvorschlags.


 „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.
Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.

Du hast nie gelernt dich zu artikulieren. Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit. […]
Weil du Probleme hast, die keinen interessieren.
Weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Faschist.“
[1]

Mit diesen Zeilen machte die Punkband „Die Ärzte“ bereits 1993 auf Rechtsextremismus und mögliche Ursachen aufmerksam. Und bis heute hat das Thema kaum an Aktualität verloren. Dies zeigt nicht nur die mediale Wiederbelebung des Songs „Schrei nach Liebe“ durch die 2015 ins Leben gerufene Initiative „Aktion Arschloch“[1], sondern auch der real verzeichnete Anstieg rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in den letzten Jahren.[2] Lag die Zahl im Jahr 2014 laut Bundesamt für Verfassungsschutz noch bei 990 (nicht zu verwechseln mit den über 16.000 rechtsextremistisch motivierten Straftaten im selben Jahr), so stieg sie im Folgejahr auf 1.408 an. Eine Entwicklung, die sich nicht allein durch den vermehrten Zuzug potenzieller Opfergruppen im Kontext der „Flüchtlingskrise“ erklären lässt – haben seitdem doch nicht bloß die Gewaltdelikte stetig zugenommen. Ebenso wächst das Rechtsextremismuspotenzial, gemessen an den Anhängerzahlen des bewegungsförmigen und organisierten Rechtsextremismus, kontinuierlich.

Ist der mit den Fluchtbewegungen erstarkte Rechtsextremismus ein immerwährendes Randphänomen oder doch die Manifestation latenter rechter Tendenzen in der breiten Bevölkerung? Darauf hat die Leipziger „Mitte“-Studie, die sich seit 2002 der Messung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland widmet, eine Antwort: Unter spezifischen Umständen werde jenes Potenzial mobilisiert, das in einigen Bevölkerungsteilen schon lange unterschwellig bestehe.[3]

Es ist kein Geheimnis, dass strukturschwache Regionen mit einer politischen Kultur, die mehr von Distanznahme als von zivilgesellschaftlicher Partizipation geprägt ist, besonders anfällig sind für eine solche Mobilisierung und dementsprechend häufiger durch rechtsextreme Aktivitäten auffallen[4] –liegt der Erklärung dieses Zusammenhangs doch die Annahme zugrunde, dass die Erfahrung aktiver Selbstwirksamkeit Basis eines angstfreien Umgangs mit dem Fremden ist. An ebendieser Erfahrung mangelt es in den betreffenden Regionen mit schwacher Zivilgesellschaft.[5]

Nun ist es kein Leichtes, diejenigen Strukturen zu korrigieren, die bereits als Ursachen zunehmender Unsicherheit und Fremdenfeindlichkeit identifiziert worden sind. Die Überwindung sozialer Ungleichheit, Prekarität und unzumutbarer Leistungsanforderungen muss Aufgabe der Politik sein, doch bleibt der Gestaltungsspielraum nicht auf Arbeits-, Bildungs- und Sozialpolitik begrenzt. Auf kommunaler Ebene können präventive Maßnahmen sehr viel leichter umgesetzt werden – meint jedenfalls der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa. In einem 2017 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Anverwandlung statt Versteinerung“[6] macht er einen Vorschlag zur Prävention rechter Orientierungen, die er nicht an Einstellungen oder Verhalten, sondern an der Haltung zur Welt, die ihnen zugrunde liegt, festmacht. Die reale oder subjektive Erfahrung, in der (sozialen, politischen und Arbeits-)Welt nicht aufgehoben zu sein, führe zu der typisch rechten „Versteinerung“, die sich v.a. im Umgang mit Neuem und Fremdem zeige.

Musikalisch vereinfacht deutet sich diese Haltung in „Schrei nach Liebe“ an. Hier haben die Ärzte den Idealtypus jenes Rechtsextremisten gezeichnet, der auch in wissenschaftlichen Deprivations- und Desintegrationsansätzen geschildert wird. Wenngleich ein stabiles soziales Netz und eine gesicherte sozioökonomische Position rechtsextremen Orientierungen vorbeugen können[7] – vorausgesetzt die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen lassen zu, dass sich diese Sicherheit auch im subjektiven Empfinden äußert –, so liefert das empathisch beschriebene Fehlen sozialer Zuneigung doch bloß eine monokausale Erklärung für das multikausale Phänomen Rechtsextremismus.

Wenn Hartmut Rosa Ideen zur Prävention entwickelt,[8] dann konzentriert er sich allerdings nicht auf einzelne Faktoren, nicht allein auf jenes Bildungsdefizit, das mit der Unfähigkeit, sich zu artikulieren, angedeutet ist, und auch nicht allein auf instabile Familienverhältnisse. Vielmehr sucht er strukturelle Gründe für jene versteinerte Haltung, die der imaginäre Adressat von „Schrei nach Liebe“ an den Tag legt. Mit welchem Ergebnis?

Konkurrenz und Flexibilisierungsdruck auf dem Arbeitsmarkt, das Gefühl, von „der Politik“ nicht gehört zu werden, sowie eine Vereinzelung in der sozialen Sphäre sind laut Rosa einige der Entwicklungen, die Unsicherheit, Angst und – im Falle des Rechtsextremismus – Feindlichkeit gegenüber dem Fremden hervorrufen. Interessant sind vor diesem Hintergrund die gravierenden Unterschiede in der regionalen Verteilung des Rechtsextremismus. Der Befund, dass rechte Strukturen in den neuen Bundesländern stärker ausgeprägt sind als in den alten, will auf einen Zusammenhang hinweisen, der unabhängig von der Ost-West-Thematik gültig ist: Schwache Infrastruktur und periphere Lage sind besonders entscheidend für eine negative Perzeption gesellschaftlicher Zustände und Veränderungen.[9]

Was wäre also, wenn man nachhaltige Integrationspolitik mit Infrastrukturmaßnahmen verknüpfen würde, die ohnehin notwendig sind? Konkret schlägt Rosa Folgendes vor: Diejenigen Gemeinden, die bereit sind, eine gewisse Anzahl Geflüchteter aufzunehmen, erhalten Gelder zur Aufrechterhaltung von Schulen, Kindertagesstätten und Buslinien sowie zum Ausbau sonstiger Infrastrukturangebote.[10]

Die direkte Verbindung der zu bewältigenden Integration mit daraus entstehenden Möglichkeiten bringt die positive Umdeutung einer passiv erfahrenen „Flüchtlingskrise“ in eine aktiv angenommene Herausforderung mit sich – eine Herausforderung, die zugleich ein gemeinschaftliches Projekt ist, das aus der Entscheidung resultiert, sich den Neuankömmlingen zu öffnen und gemeinsam eine stabile und integrative Infrastruktur aufzubauen.

Um jenes Verantwortungsbewusstsein zu fördern, bedarf es einer transparenten und diskursiven Kommunalpolitik, welche die Mitbestimmung im demokratischen Entscheidungsprozess beflügelt. Dieser Ansatz lässt sich weiterdenken und um konkrete Formen der Partizipation ergänzen, die möglichst viele Menschen einzubinden vermögen. Zweifelsohne aber besteht aus Rosas Perspektive die Notwendigkeit, neue Sphären der Selbstwirksamkeitserfahrungen zu eröffnen, die zugleich die Haltung gegenüber dem Fremden grundlegend verändern. Dass solche Maßnahmen allerdings auch auf aktive Rechtsextreme, wie sie bspw. die Ärzte beschreiben, eine unmittelbare Wirkung haben, ist anzuzweifeln. Schließlich muss bei Gewaltbereitschaft von einem Niveau der Feindlichkeit ausgegangen werden, das keinerlei Öffnung mehr zulässt. Doch mit Blick auf das rechte Potenzial in der Gesellschaft und das Abschneiden der AfD bei der letzten Bundestagswahl[11] gibt es Anlass genug, präventiv vorzugehen und die Chance zur Überwindung einer sozialen Versteinerung zu nutzen, solange sie noch besteht.

 

Luisa Rolfes ist Studentin der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und Hilfskraft am Institut für Demokratieforschung.
Dort arbeitet sie in der Redaktion der „INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“.

[1] Aktion Arschloch, URL: http://www.aktion-arschloch.de/ [eingesehen am 25.09.2017].

[2] Bundesamt für Verfassungsschutz, URL: https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-rechtsextremismus/zahlen-und-fakten-rechtsextremismus/rechtsextremistische-straf-und-gewalttaten-2016 [eingesehen am 25.09.2017].

[3] Vgl. Decker, Oliver et al.: Die „Mitte“-Studie 2016: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf, in: Brähler, Elmar et al. (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland: die Leipziger „Mitte“-Studie 2016, Gießen 2016, S. 23–66.

[4] Vgl. Buchstein, Hubertus/Heinrich, Gudrun (Hrsg.): Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Demokratie und Rechtsextremismus im ländlichen Raum, Schwalbach/Ts. 2011.

[5] Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

[6] Vgl. Rosa, Hartmut: Anverwandlung statt Versteinerung. Zwei Antworten auf die „Flüchtlingskrise“, in: Mittelweg 36, Jg. 26 (2017), H. 2, S. 27–37.

[7] Vgl. Decker, „Mitte“-Studie 2016, S. 23–66.

[8] Vgl. Rosa, Resonanz.

[9] Vgl. Buchstein/Heinrich, Rechtsextremismus in Ostdeutschland.

[10] Vgl. Rosa, Anverwandlung, S. 27–37.

[11] Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 unter URL: https://bundestagswahl-2017.com/ergebnis/ [eingesehen am 26.09.2017].