[analysiert]: Franz Walter analysiert, warum Guido Westerwelle als Parteivorsitzender letztendlich zum Scheitern verurteilt war.
Gewiss hatte man sich bei den parteipolitisch Liberalen am Abend des 27. September 2009, als die Stimmen zur Bundestagswahl ausgezählt waren, die Zukunft rundum rosa gemalt, etwa so wie heute die Grünen: Große Volkspartei wollte man werden. Und in der Tat sind die Zeiten im Prinzip glänzend für eine liberale Partei. Der Typus der Großorganisation, die Struktur flächendeckender und lebenslang prägender Milieus als Basis früheren volksparteilichen Erfolgs schwindet in dem Maße, in dem die Industriegesellschaft an Bedeutung verliert. Im Postindustrialismus besteht für kollektive Großbataillone weniger Bedarf, es weitet sich stattdessen der Raum für kleine, bewegliche, autonome politische Projekte, wenn man so will: für genuin liberale Anliegen.
Dabei sah die Situation schon zwischen 1992 und 2000 denkbar trüb, wenn nicht gar aussichtslos aus. Die Metapher von den Sterbeglöckchen, die dem Liberalismus in Deutschland läuteten, war bereits damals nahezu allgegenwärtig. Doch die Jahre 2001/02 schienen eine Wende zu markieren. Allein die FDP verbuchte seinerzeit innerhalb der deutschen Parteienlandschaft Mitgliederzuwächse. Bis heute zählt sie gegenüber den derzeitigen Überfliegern innerhalb des Milieus besserverdienender, gut qualifizierter Bundesbürger – den Grünen also – einige tausend Mitglieder mehr. Bei den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 gelang der FDP der Vorstoß in historisch eher unzugängliche Wählerschichten. Sie wurde insbesondere bei Arbeitern, Arbeitslosen, jungen Männern mit geringer schulischer Bildung erheblich stärker. Einen gewaltigen Sprung nach vorne machte die FDP vor allem bei den jungen Wählern, hier in erster Linie bei der Kohorte der 70er Geburtsjahrgänge, der primären „Generation @“. In der Mitgliedschaft der Partei insgesamt machten jungen Liberale im Alter bis zu 29 Jahren einen Anteil von ca. 11,5 Prozent aller organisierten Freidemokraten aus – womit die Liberalen die Werte der Volksparteien um mehr als das Doppelte übertrafen – und übertreffen.
Es ist schwerlich zu leugnen, dass viel davon das Werk von Guido Westerwelle war. Im Grunde war er einer der ersten Spitzenpolitiker, der aus den gefrorenen Lagerkonfigurationen herausdrängen und seine Partei zu einer äquidistanten Haltung gegenüber beiden Volksparteien bewegen wollte. Nicht zuletzt deshalb avancierte er zur Leitfigur jener Generation in der FDP, die dort dem Altliberalismus folgte. Insgesamt war auch das von vielen als vermessen und durchweg gescheiterte „Projekt 18“ keineswegs rundum ein Flop. Die Wählerbasis der FDP ist als Folge der Kampagne zunächst durchaus breiter geworden, zudem insofern – wie es zumindest schien – eigenständiger, da die Partei zuletzt auf der Bundesebene auch bei den Erststimmen die Fünf-Prozent-Hürde nahm.
Doch erfolgte seit November 2009 jäh und brutal der Absturz, die Depression, die Stagnation an der Fünf-Prozent-Hürde – das klassischen Menetekel der FDP-Geschichte. Mit dem großen Thema „Steuersenkung“ hatte sich die Partei zum Wahlerfolg katapultiert; die Entzauberung des Themas hatte sie dann mit Aplomb nach unten gedrückt. Und so stand die Ein-Themen-Partei plötzlich ganz ohne jeden Slogan oder gar Erzählung dar, war zur Null-Themen-Partei geschrumpft, wie es allenthalben nun spöttisch kommentiert wurde.
In der Tat: Häme ernten die Freien Demokraten stets überreich. Wieso eigentlich gerade sie und warum in diesem Maße?
Die Freien Demokraten kokettieren seit jeher gern damit, im Unterschied zu den anderen politischen Formationen Abstand zum administrativ wuchernden Parteienstaat zu halten. In ihrer Partei, so erzählen sie gern, gilt der Fachmann mehr als der Parteisoldat. Eine Zeit lang lagen sie mit dieser Selbstzuschreibung nicht falsch, da bei den Liberalen – man erinnere sich an Ralf Dahrendorf oder Werner Maihofer – Seiteneinsteiger in der Tat mit offenen Armen empfangen wurden und rasch reüssieren konnten.
Doch das ist lange her. Mittlerweile ist die FDP eine Parteibürokratie wie alle anderen auch, ist vom Idealbild bürgerlicher Autonomie ebenso weit weg wie der Rest. Ja, mehr noch: Stallgeruch und Ochsentour werden gerade bei den Freien Demokraten besonders prämiert. Und damit dürfte auch zum Teil die Verachtung zu erklären sein, die den Liberalen in Deutschland oft entgegenschlägt: Sie wurzelt in der immerwährende Diskrepanz zwischen bürgerlichem Anspruch und reichlich unbürgerlicher Praxis.
Man nehme nur Westerwelle. Er ist gewissermaßen der bundesdeutsche Parteimann par excellence. Allein die Partei, ihre Sekretäre, Mandatsträger und staatlich alimentierten Fraktionsreferenten, sind der Quell seines Aufstiegs. Guido Westerwelle begann, wie es bei Parteikarrieristen üblich ist, als Chef der Jugendorganisation, wurde als Generalsekretär zum Chef des Apparats, bis es ihm gelang, zum obersten Chef der Partei schlechthin zu avancieren. Hingegen war er nie ein Bürgermeister, nie ein Landrat, nie ein Länderminister. In seinem bürgerlichen Beruf hat er sich dem Vernehmen nach auch nicht sonderlich engagieren müssen. Die Partei nahm ihn ganz in Anspruch.
Weder Helmut Kohl noch Willy Brandt, die durchaus auch in Fülle aus ihren Parteifamilien lebten, waren derart eng zugeschnitten auf die Partei als Kosmos des gesamten Lebens. Und die Parteirolle interpretierte Westerwelle fast durchgängig als Rhetor der Oppositionsmentalität. Westerwelle wirkte als Redner des Verdrusses, nicht als Praktiker der Verantwortung. Die Höhepunkte seiner meist lauten Rhetorik waren immer dann erreicht, wenn er höhnisch die vermeintlichen Dekadenzerscheinungen der Republik geißelte – einer Republik, die keine andere Partei so lange hatte regieren können wie eben die FDP.
Dann wurde dieser Mann Außenminister der Deutschen. Seine freidemokratischen Vorgänger im Amt hatten zuvor schon – wie Walter Scheel und Hans Dietrich Genscher – Bundesministerien geleitet, besaßen also Erfahrung in Regierungsfunktionen; der dritte im Bund, Klaus Kinkel, hatte als Leiter des Planungsstabes im AA vorab zumindest beträchtliche Kompetenzen aufbauen können. Westerwelle aber strebte mit dem ihm eigenen, wild entschlossenen Ehrgeiz als Greenhorn die gouvernementalen Verantwortung in diesem elementaren Ressort an. Daran scheiterte er. Und verlor dadurch seinen Parteivorsitz.
Man wird sehen, ob er mit der Demission aus der Parteiführung sein Amt als Außenminister mit samt all seinen Würden wird halten und retten können. Er wird darum kämpfen. Denn was soll sonst für ihn kommen? Außer Selbstzweifel, Leere, Depression?
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.