Welche Flüchtlingskrise?

Beitrag verfasst von: Julia Schulze Wessel

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[gastbeitrag]: Julia Schulze Wessel über die „Flüchtlingskrise“ als Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Als im Jahr 2015 so viele Menschen wie lange nicht mehr die Grenzen zu verschiedenen Ländern der Europäischen Union übertraten, war schnell der Begriff der Flüchtlingskrise in der Welt. Und er hält sich – bis heute konstant – sowohl in den öffentlichen als auch in den wissenschaftlichen Debatten.[1] Dabei verbindet sich mit diesem Begriff ein ganzes Füllhorn an Bildern: von überfüllten Aufnahmeeinrichtungen, von Auseinandersetzungen zwischen GrenzbeamtInnen, Militär und Polizei auf der einen und Geflüchteten sowie UnterstützerInnen auf der anderen Seite. Zugleich ruft der Begriff Bilder von erschöpften Bootsflüchtlingen an den Küsten Europas ebenso wie von versunkenen Booten und angespülten Leichen wach. Und er steht nicht zuletzt für die unkontrollierte Überwindung von Zäunen und Stacheldraht, für die Proteste an den Grenzen und für den selbst organisierten Aufbruch aus Ländern, in denen keine Lebensperspektive mehr zu erwarten war.

Der Begriff der Krise ist in den letzten Jahren inflationär in Medien und Wissenschaft, in der öffentlichen Diskussion und in verschiedenen Gegenwartsdiagnosen genutzt worden. Wir sprechen von der Finanzkrise, von der Krise politischer Parteien, von der Krise der Demokratie – leben also offenbar in krisenhaften Zeiten. Im alten Griechenland wurde unter einer Krise ein entscheidender Wendepunkt verstanden, die Zuspitzung einer Situation, in der Entscheidungen getroffen werden müssen. Krise bezeichnet damit den Scheitelpunkt einer Entwicklung, verweist auf eine ungewisse Zukunft. Krisenzeiten entziehen sich der Kontrolle und Beherrschbarkeit, sind insofern, zumindest diskursiv, von der Routine und Normalität unterschieden. Sie erfordern schnelles Handeln und Entscheiden, denn Krisen verweisen immer auch auf den Zeitdruck, der langwierige Aushandlungsprozesse zur Gefahr für den Bestand einer Ordnung werden lässt.

Was jedoch ist genau gemeint, wenn von der Flüchtlingskrise die Rede ist? Was gerät warum in eine Krise und was genau ist bedroht oder steht vor einem entscheidenden Wendepunkt? Was wird verändert, transformiert oder herausgefordert, was gerät in Gefahr, kündigt einen Wendepunkt an oder ist zukunftsoffen, wenn der Begriff der Flüchtlingskrise Verwendung findet?

Die Flüchtlingskrise als Krise des Flüchtlings

Die Figur des Flüchtlings, so wäre das Argument, hat sich so entscheidend gewandelt, dass mit tradierten Flüchtlingseigenschaften auf neue fluchtauslösende Faktoren und Fluchtmotive nicht mehr adäquat zugegriffen werden kann. Die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Flüchtlingsdefinition wird seit Jahren intensiv in der Flüchtlingsforschung geführt. Die im internationalen Recht verankerten Flüchtlingseigenschaften sehen die illegitime Verfolgung von Personen durch staatliche Akteure vor. Diese Flüchtlingsdefinition geht von schwachen Individuen aus, die einem machtvoll agierenden Staat gegenüberstehen und sich gegen dessen repressiven Zugriff nicht verteidigen können.[2] Allerdings fliehen heute viele Menschen nicht mehr vor zu starken Staaten, deren repressiver Politik sie ausgesetzt sind. Die heutigen Fluchtursachen liegen zunehmend im Versagen des staatlichen Schutzes und in Bürgerkriegen. Menschen fliehen also aus schwachen oder auch zerfallenden Staaten.

Das verändert nicht nur die Flüchtlingsfigur, sondern auch das Verhältnis der aufnehmenden demokratischen Staaten den Ankommenden gegenüber. Denn noch nie in der Geschichte der abendländischen Welt[3] ist Asyl allein aus Barmherzigkeit, Mitleid oder moralischer Verpflichtung gegenüber Notleidenden gewährt worden. Neben Solidarität, religiösen oder menschenrechtlichen Verpflichtungen hat es immer auch Interessen der asylgewährenden Aufnahmegemeinschaften oder -staaten gegeben.[4] Flüchtlinge des Kalten Krieges konnten zum Beispiel als Bestätigung der Vorzugswürdigkeit der eigenen politischen Ordnung und als Überlegenheit freiheitlicher demokratischer Gesellschaften gelten. Sie repräsentierten die heroic victims,[5] Kämpfer der Freiheit, die durch ihr mutiges politisches Handeln repressiven und diktatorischen Staaten die Stirn geboten hatten und illegitimer Verfolgung ausgesetzt gewesen waren.[6] Fliehen Menschen dagegen aufgrund von ökonomischer Perspektivlosigkeit, Bürgerkrieg, Klimawandel oder Umweltzerstörung, können schwerlich konkret verantwortliche staatliche Akteure ausgemacht werden – wie wohl zumindest ein Teil der Verantwortung in den europäischen Aufnahmestaaten liegen dürfte. Symbolkraft sowie instrumentelle Bedeutung der Flüchtlingsfigur für die europäischen Aufnahmestaaten haben sich also entscheidend gewandelt, weshalb eine Krise des Flüchtlingsbegriffs durchaus plausibel ist und vermehrt diskutiert wird.

Flüchtlingkrise als Krise der Flüchtlinge

Zum anderen kann der Begriff der Flüchtlingskrise auf die desaströse, sich zuspitzende Situation der geflüchteten Menschen selbst verweisen.[7] So steigen nicht nur weltweit die Zahlen von Geflüchteten. Die meisten von ihnen sind die von Wissenschaft und Öffentlichkeit am wenigsten beachteten internally displaced persons, die über keinerlei Mittel verfügen, sich überhaupt auf den Weg zu machen. Haben sie die Möglichkeit, ihr Land zu verlassen, erstreckt sich ihre Flucht meist über Jahre und ist verbunden mit extremer Unsicherheit, ganz gleich, an welchem Ort sie sich aufhalten. Das gilt nicht nur für die Situation in den Herkunftsländern, sondern auch für die Lage in den Transit- und Ankunftsländern. Die meisten Menschen fliehen in benachbarte Regionen, da ihnen die Mittel für eine Weiterwanderung fehlen. Verfügen diese Länder über keine ausreichende Infrastruktur, um die Geflüchteten zu versorgen, kann das zu Spannungen im Land führen und/oder neue Wanderungsbewegungen auslösen. Auch sind die Wanderrouten von einem wachsenden System aus Lagern umgeben – von Transitlagern, deportation camps, Gefängnissen, Lagern von humanitären Hilfsorganisationen. In verschiedenen Regionen der Erde ist das Lager für manche Menschen die einzige Welt, die sie kennen.

In den letzten Jahren hat sich die Situation in den Ankunfts- und Transitländern zugespitzt. Die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit an den Rändern der EU, in den Auffanglagern und den Transitzonen hält bis heute an. In den letzten zwei Jahren haben sich die Berichte über die schlechten, teils lebensbedrohlichen Zustände in Lagern und an Grenzzäunen gehäuft. Sie zeugen offenbar von einem qualitativen Bruch mit vorangegangenen Situationen. Denn oft war davon die Rede, dass solche Zustände mitten in Europa unvorstellbar seien.

Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik

Dass der Begriff der Flüchtlingskrise im Sinne einer dieser soeben aufgeführten Bedeutungen gebraucht wird, erscheint angesichts des Kontextes, in dem er immer wieder auftaucht, jedoch eher abwegig. Denn der Begriff wird in erster Linie im Zusammenhang mit dem Kontrollverlust an den Grenzen, der Überforderung von Ämtern und Behörden, der schwierigen Situation in den Gemeinden, der angespannten gesellschaftlichen und politischen Stimmung sowie der hohen Zahl an Ankommenden in Deutschland 2015 und 2016 verwendet.

Wenn der Krisenbegriff nicht die geflüchteten Menschen, sondern die Kontrolle über sie meint, dann stimmt etwas mit dem Begriff nicht. Wenn von Flüchtlingskrise die Rede ist, dann bezieht sich der Krisenbegriff nicht auf die geflüchteten Personen, sondern offenbar auf die Ausgestaltung der Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU. Die Flüchtlingskrise ist demnach viel besser beschrieben als eine Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik.

PD Dr. Julia Schulze Wessel, geb. 1971, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Dresden.

Der Text ist eine gekürzte Fassung des Originalbeitrags, der in der INDES-Ausgabe 2-2017 erschienen ist: Krise! Welche Krise? Von der „Flüchtlingskrise“ zur Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik.

[1] Vgl. etwa Geiger, Klaus: Europa schlafwandelt in die nächste Flüchtlingskrise, in: Die Welt, 24.03.2017; Meck, Georg: Lehren aus der Flüchtlingskrise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.08.2016; Luft, Stefan: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen, München 2016.

[2] Vgl. Price, Matthew E.: Persecution Complex. Justifying Asylum Law’s Preference for Persecuted People, in: Harvard International Law Journal, Jg. 47 (2006), H. 2, S. 414–466.

[3] Asyl hat es auch in anderen Kulturen bereits gegeben, allerdings ist das Thema noch relativ unerforscht.

[4] Von der antiken bis zur modernen Welt: Schuster, Liza: Asylum and the Lessons of History. An Historical Perspective, in: Race and Class, Jg. 40 (2002), H. 2, S. 40–56.

[5] Vgl. Tietjens Meyers, Diana: Two Victim Paradigms and the Problem of ‚Impure‘ Victims, in: Humanity, Jg. 2 (2011), H. 2, S. 255–275.

[6] Vgl. Shakenove, Andrew E.: Who is a refugee?, in: Chicago Journals, Jg. 95 (1985), H. 2, S. 274–284; vgl. auch Price.

[7] So der Vorschlag von Stefan Luft.