Gedrückt gingen die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ins Jahr 2017. Niederschmetternde Aussichten in den Wahlumfragen und ein Parteivorsitzender als potenzieller Kanzlerkandidat, an dem große Teile des Establishments der Partei sowie der Öffentlichkeit zweifelten. Die Entscheidung, dann an Stelle von Sigmar Gabriel auf den vormaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz zu setzen, wirkte da wie ein Befreiungsschlag. Die Umfragen der SPD schossen regelrecht durch die Decke. Reihenweise traten Menschen der deutschen Sozialdemokratie bei.
Doch von den jählings glänzenden Aussichten, das Kanzleramt zu erobern, hat sich die SPD mittlerweile wieder weit entfernt. Warum ist vom sog. Schulzeffekt des Frühjahrs, den Demoskopen ja so glasklar mit ihren Instrumenten haben messen können, im Herbst 2017 kaum noch etwas übrig? Nun kann man die euphorische Hochphase für genauso irrational halten wie die jetzige Baisse der Partei. Dennoch lassen sich drei Elemente identifizieren, die wohl erklären, warum sich der anfängliche Effekt nicht verstetigen ließ: Gegenmobilisierung, taktische Fehleinschätzungen und strategische Probleme.
Mobilisierung wirkt immer wechselseitig. Zieht die eine Seite für ihren Kandidaten emphatisch in die Auseinandersetzung, sieht sich auch die Gegenseite veranlasst, für ihre Überzeugungen ebenfalls sichtbarer als bislang einzutreten. Niemand müsste das eigentlich besser wissen als die Strategen im Willy-Brandt-Haus; schließlich hatten sie ja immer die asymmetrische Mobilisierung einer Angela Merkel kritisiert, wussten sie doch, dass in den Kernmilieus von SPD und Union die kraftvolle Abgrenzung von der jeweils anderen Volkspartei nach wie vor den meisten Beifall einbringt. Und genau deswegen hat der Schulzhype nun ausgerechnet als erstes der CDU im Saarland genutzt. Ein eher lahmer Wahlkampf einer Großen Koalition, die im Lande wertgeschätzt wurde und die auch leidlich harmonisch gearbeitet hatte, wurde durch die Inthronisierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidaten mit einem Mal zum Testlauf für die Bundestagswahl. Die Sozialdemokraten verspürten einen Energieschub für ihren Wahlkampf an der Saar; gleichzeitig elektrisierte die Aussicht auf eine starke SPD, die am Ende einer populären CDU-Ministerpräsidentin ihr Amt kosten (plus die Wiederkehr Oskar Lafontaines in Regierungsverantwortung bedeuten) könnte, einen Teil der zuvor noch in Wartestand befindlichen Unionsanhänger. Daher stieg die Zahl der CDU-Wähler am Wahltag weitaus stärker an als jene der SPD-Anhängerschaft. Immerhin 10.000 Stimmen konnte die saarländische SPD gegenüber 2012 netto hinzugewinnen – doch die CDU gewann fast fünf Mal soviel hinzu.
Als die Fortsetzung der Großen Koalition im Saarland verhandelt wurde, entschied sich die sozialdemokratische Parteiführung, die beiden Landtagswahlen im Mai mit möglichst wenig Bundespolitik zu flankieren. Mögliche Niederlagen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen sollten nicht toxisch auf den Bundestagswahlkampf wirken. Auch die Landesverbände, vor allem die im Westen der Republik, hatten in ihrer strategischen Planung Ende 2016 nicht damit gerechnet, dass sie Rückenwind von der Bundespolitik erhalten würden. Sie hofften, dass ihre landespolitische Bilanz hinreichend für sich spräche, die Popularität ihrer Ministerpräsidenten ausreichen und die jeweilige Landesopposition abschreckend auf Wechselwähler wirken würde. Tatsächlich aber erwiesen sich gerade die Landespolitik und die Eskapaden des Spitzenpersonals als entscheidende Schwachstellen in den Landtagswahlkämpfen. Der neue Spitzenkandidat auf der Bundesebene hatte sich im Gegenzug zwar von einer Verantwortung für das Ergebnis maximal entfernen können, doch wertvolle Zeit, das programmatische Angebot der SPD zu verbreitern und zu festigen, war verstrichen.
Dabei hätte die SPD Zeit gut brauchen können, ja eigentlich auch nutzen müssen, um das Leitthema von Martin Schulz – Gerechtigkeit – mit dem zu verbinden, was die Partei eigentlich in Regierungsverantwortung erreicht hatte. Denn in der Tat basierte ein Teil des Effekts, den Martin Schulz ausgelöst hat, darauf, dass einige Bevölkerungsgruppen den Eindruck hatten, dass ihre Sorgen und Nöte endlich wahrgenommen würden. Endlich war da jemand aus der politischen Elite, der die Dinge nicht schönredete, der auch anders sprach als die im Berliner Politgeschäft gestählten Eliten. Endlich war dort jemand, der Ungerechtigkeiten wieder als solche benannte. Doch genau das führte mit der Zeit zu einer Leerstelle. Schließlich ist die SPD diejenige Partei, welche während der vergangenen 19 Jahre immerhin in 15 Jahren an der Bundesregierung beteiligt gewesen ist. Sie ist auch und vor allem jene Partei, deren Funktionsträger geradezu stolz darauf sind, dass die SPD in der Großen Koalition Triebkraft der Regierungspolitik war und ist. So hatte sie sich 2009 im Bundestagswahlkampf inszeniert, so hatte sie Anfang 2014 ihre Mails unterzeichnet („Die SPD regiert. Das Land kommt voran.“ las man seinerzeit im Footer der Mails der hauptamtlichen Parteivertreter). Nicht ohne Stolz schaute man lange Zeit auf die eigenen Regierungsbeteiligungen. Immerhin war die SPD Anfang 2016 in 14 der 16 Bundesländer exekutiv vertreten, stellte Anfang 2017 die meisten Ministerpräsidenten. Die SPD hat im Zuge des Schulzhypes somit nebenbei darauf aufmerksam gemacht, dass ein Teil der Probleme, die sie beklagt, in ihrer Regierungszeit entstanden sind oder nicht gelöst werden konnten. Zwischen der Nominierung von Schulz im Januar und dem Ausgang der Wahl in Nordrhein-Westfalen ist ihr nicht gelungen, daraus eine schlüssige Erzählung zu entwickeln. Dieses wäre durchaus möglich gewesen, schließlich hat die SPD etwa in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Großen Koalition einiges vorzuweisen. Sie hat Entscheidungen revidiert, die sie im Rahmen der Agenda 2010 getroffen hatte. Sie hat Konzepte vorgelegt, die über den Wahltag hinausreichen und die von der Öffentlichkeit goutiert werden. Doch eine stringente Erzählung, die auf Martin Schulz zulief, wurde daraus nicht. Stattdessen nahmen die Angriffe auf die Kanzlerin zu – jene Kanzlerin, welche die SPD zwei Mal mitgewählt hatte. Das wirkte dann fast schon ein wenig hilflos.
Hoffnung können den Sozialdemokraten im Augenblick zwei Dinge machen. Zum einen sind die politischen Lager beileibe noch nicht ausmobilisiert. Die Wähler warten ein wenig ab, welche Perspektiven für die Zukunft ihnen noch offeriert werden. Daraus mag sich für die Bundestagswahl auf den letzten Metern eine neue Dynamik entwickeln. Dafür spricht, dass die öffentlichen Veranstaltungen mit Martin Schulz gut besucht sind, weitaus voller jedenfalls als vor vier und vor acht Jahren bei Peer Steinbrück oder Frank-Walter Steinmeier. Zum anderen hat die SPD ja in der Tat eine erhebliche Blutauffrischung erfahren. Wenn sich die zahlreichen Neumitglieder nicht von einer eventuellen Schlappe bei der Bundestagswahl entmutigen lassen, stellen sie langfristig eine wichtige Ressource für die SPD dar und ermöglichen der Partei, wieder Anschluss an moderne Milieus zu erlangen. Möglicherweise braucht die Partei aber einen langen Atem, ehe sie daraus wieder eine Mehrheitsfähigkeit erlangen kann. Martin Schulz’ Plänen, das Kanzleramt zu erobern, wird das vielleicht nicht mehr helfen – doch für die Fortführung der sozialdemokratischen Idee gibt das Hoffnung. Und das ist dann schon mehr, als die SPD noch Anfang 2017 ausgestrahlt hat.
Dr. Stephan Klecha ist Privatdozent für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland an der Georg-August-Universität Göttingen.