Wanja und die moderne Politik

[kommentiert]: Franz Walters Neujahrserzählung über den Ursprung der „Kraft der Kanzlerin“

Person des Jahres: Angela Merkel. So titelt diese Woche der Stern. Und er fragt: „Woher nimmt sie nur die Kraft?“ Versuchen auch wir eine Antwort. Bedienen wir uns einer der beliebten russischen Volkssagen, nämlich der, die von den Abenteuer des starken Wanja handelt. Der Kinder- und Jugendbauchautor Otfried Preußler hat eine eigene Version davon Ende der 1960er Jahre als Buch veröffentlicht. Der starke Wanja, so wird es erzählt, mied in seiner Jugend die schwere Feldarbeit. Stattdessen ruhte er sieben Jahre lang in der Bauernstube auf dem Ofen, nährte sich von Sonnenblumenkernen – und tat sonst rein gar nichts. Keiner seiner Brüder mochte ihn leiden. Verständlicherweise. Aber nach sieben Jahren der Muße stand Wanja vom Ofen auf, war ausgeruht und stark wie ein Bär. Er zog aus, bekämpfte die Bösen. Zum Schluss wurde er Zar im Land jenseits der Weißen Berge. Natürlich ist das eine ganz unrealistische Geschichte. Wir alle wissen schließlich, dass nach sieben Jahren des aktivitätslosen Phlegmas die Muskel erschlafft sind, dass man nicht stark, sondern schwach ist. Und doch hat auch diese Geschichte, wie es bei Volkssagen so üblich ist, einen wahren Kern. Im Zustand der deutschen Politik der letzten Jahre können wir diesen Kern wunderbar erkennen. Eben bei der Stern-Person des Jahres: Angela Merkel also.

Im Grunde hätte die gegenwärtige Kanzlerin der Deutschen kaum eine Chance haben dürfen, das zu werden, was sie jetzt ist. Denn sie besaß nichts von dem, was nach der festen Überzeugung aller Kenner des Politischen unabdingbare Voraussetzung dafür ist, um in der Parteiendemokratie ganz oben tatsächlich zu reüssieren. Merkel verfügte nicht über Stallgeruch, hatte keine Ochsentour absolviert, durfte sich nicht auf geschlossene Bataillone eines mächtigen Landesverbandes verlassen, war nicht in Seilschaften und einflussreichen Netzwerken integriert. Und dennoch wurde sie Kanzlerin, dennoch führt sie die CDU seit nunmehr bald 12 Jahren – weit länger als dies Ludwig Ehrhard, Kurt Kiesinger, Rainer Barzel oder Wolfgang Schäuble gelang, die allesamt keine ganz kleinen Kaliber in der deutschen Politik waren.

Bleiben wir mithin bei unserer Geschichte. Angela Merkel hat einiges vom starken Wanja. 35 Jahre lebte sie in der DDR, bis die Mauer fiel. Es sei ein entschleunigtes Leben gewesen, wurde oft berichtet. Merkel jedenfalls nahm sich alle Zeit der Welt, um geruhsam in den Tag hineinzupromovieren, profilierte sich nicht durch staatlich erwünschten Aktivismus, investierte aber auch keine Kraft in Oppositionsaktivitäten; dergleichen hielt sie für verlorene Liebesmühe. Die meisten Gegner der SED-Herrschaft waren, anders als sie, im Herbst 1989 bereits zermürbt und verschlissen, hatten sich in Konspirationen und Verdächtigungen verbissen. Angela Merkel hingegen betrat die politische Bühne der Bundesrepublik als Wanja: ausgeruht, neugierig, ohne den verzerrenden Blick abgekämpfter Lebenslangaktivisten.

Das war die Differenz Merkels nicht nur zu den früheren Ost-Dissidenten; das war auch der Unterschied zu ihren gleichaltrigen Rivalen an der Spitze christdemokratisch geführter Landesregierungen vom Pacto Andino. Sie alle waren schon rund drei Jahrzehnte im Geschäft, waren die Karriereleiter von der ersten bist zur vorletzten Sprosse hochgeklettert, von der Schüler Union über die Junge Union, den RCDS, die Kommunalpolitik, die Landespolitik und so weiter. Sie waren bestens versäult, sie kannten die Rituale und Konventionen ihrer Partei, die Sprachformeln und Symbole ihrer Milieus. Immer hieß es, dass sei die Voraussetzung schlechthin, um in der Parteiendemokratie zu reüssieren.

Aber in den letzten Jahren standen Parteien nicht mehr im Zentrum, waren nicht mehr Ausdruck elementarer und kraftvoller Soziallagen. Wer dort Tag für Tag geackert hatte, war kein Experte mehr für Hoffungen und Ängste der tragenden Lebenswelten in dieser Republik. Insofern sind Parteien für den politischen Prozess, für Rekrutierung, Orientierung und Mobilisierung längst nicht mehr vergleichbar wichtig wie früher – mit der Folge, dass die intime Kenntnis der inneren Mechanismen des Parteienbetriebes an Bedeutung verlieren. Die Kochs, Merzens, Müllers, Beusts, Wulffs, Rüttgers, Böhrs und wie sie alle hießen und heißen hätten gegen Merkel das Spiel leicht gewinnen müssen – hätten es vor drei Jahrzehnten gewiss auch noch souverän gewonnen -, wären die klassischen parteidemokratische Fundamente nach wie vor intakt und vital. Aber mit der Vitalität ist es längst vorbei. Und doch absorbiert das Engagement dort, gleichsam von Kindesbeinen an, viel Zeit, Energie und Phantasie für introvertierte Händel in einer nunmehr randständig gewordenen, fast absonderlichen Gesellungsform. Das Tun dort erdet nicht mehr, sorgt nicht für Wurzeln und Erfahrungen, nicht für Common sense und Wirklichkeitssinn. Die Binnenbetriebsamkeit in diesem Biotop verschleißt enorm viel Lebenskraft, zieht die Tag für Tag Engagierten von den wirklich wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ab.

Insofern scheint die Wanjarisierung, die Verweigerung also der introvertierten Sozialisation in den Jugendkonventikeln der politischen Parteien, ein probates Mittel zu sein, einen Kraftspeicher anzulegen und den Blick nicht zu sehr zu verengen, um im geeigneten Moment ziemlich unneurotisch, einigermaßen frisch und hinreichend neugierig die politische Initiative zu ergreifen.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.