Von Öko-Freaks und Nerds

[gastbeitrag]: Saskia Richter vergleicht die frühen Grünen mit der Piratenpartei.

Seit der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses im September 2011 ziehen die Piraten in die deutschen Parlamente ein. Transparent wollen sie sein, jedem Bürger einen Einblick in die Abstimmungsprozesse gestatten und ihn zur Teilhabe anregen. Ihre Positionen zu Bürgerrechten und Bildungspolitik bleiben flexibel, sie sollen immer wieder neu bestimmt werden.

Den Piraten ist nicht das Was wichtig, sondern das Wie. Ihre Forderungen nach direkter Demokratie setzen sie im politischen Alltag um. Dabei sind sie so radikal, dass sie sich die deutsche Demokratie ohne Parlamente vorstellen können. Derzeit werden die Sitzungen der Berliner Fraktion per Livestream im Internet übertragen, die Türen der Abgeordnetenbüros stehen offen; jeder ist willkommen, sich im ehrenamtlich organisierten Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen zu beteiligen.

Das alles klingt bekannt: Die Grünen sind vor mehr als dreißig Jahren mit einem solchen basisdemokratischen Ansatz in die Landesparlamente und in den Bundestag eingezogen. Auch ihre Türen standen damals der Öffentlichkeit offen. Auch sie wollten eine Professionalisierung der Politik verhindern und direkte Demokratie ermöglichen. Getragen von starken sozialen Bewegungen war das einzige, was sie damals nicht hatten, das Internet.

Wie die Grünen haben die Piraten den Ruf einer Single-Issue-Partei. Was bei den Grünen die Ökologie war, ist bei den Piraten das Netz. Doch bei beiden Parteien stimmt dies nicht ganz: Während die Grünen die gewandelten Werte des Postmaterialismus auch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und in ihrem Slogan „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“ ausdrückten, positionieren sich die Piraten als Partei der Informationsgesellschaft und der digitalen Revolution in der Bildungs- und Wirtschaftspolitik. Beide leiten Politik von ihrem Gesellschaftsverständnis ab.

Beide Parteien – Grüne und Piraten – sind Protest-Parteien, die aus Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien gewählt wurden und werden. In den 1980er Jahren haben die Grünen Wähler der SPD, Nichtwähler und konservative Wähler mobilisieren können. Ebenso ist es mit den Piraten: Sie mobilisieren Nichtwähler, enttäuschte Wähler der Linken und Wähler von CDU und FDP.

In ihrer Rolle im Landtag sind Grüne und Piraten klassische Oppositionsparteien. Sie entwickeln inhaltliche Positionen und Forderungen, die in den Parlamenten unpopulär sind: Bei den Grünen war es der Ausstieg aus dem NATO-Doppelbeschluss und aus der Kernenergie. Die Piraten richten sich gegen Vorratsdatenspeicherung und Urheberrechte, womit sie Zustimmungen in der Bevölkerung erzielen – und bei den Kunstschaffenden Empörung verursachen.

Auch der Habitus der Neu-Parteien ist ähnlich: Was bei den Grünen der langhaarige, Wollpullover tragende Ökologiefreak war, ist bei den Piraten der Computer-Nerd mit hohem Bildungsniveau. In den 1980er Jahren waren es Lehrer und Sozialwissenschaftler, die sich unbefangen in der Politik engagierten, heute sind es Ingenieure und internetaffine Bürger, die sich in den Altparteien nicht aufgehoben fühlen.

Wie die Grünen wollen auch die Piraten sich weder rechts noch links in das Schema der Altparteien einordnen lassen. Sie wollen Avantgarde sein und betonen den Freiheitsbegriff, den die FDP nicht mehr besetzen kann. Wie die Grünen in den 1980er Jahren sind auch die Piraten Teil einer europäischen und transnationalen Bewegung: „Piraten versetzen Deutschland in Angst und Schrecken“, überschrieb der SPIEGEL einen Artikel Ende März 2012, ähnlich verängstigt reagierten Presse und Politik in den 1980er Jahren auf die Grünen. Sie wurden als Außenseiter gesehen, denen man den Umgang mit der Macht nicht zutraute, manch konservativer Politiker bezeichnete sie als Sicherheitsrisiko.

Wie die Grünen versuchen auch die Piraten, neue Organisationsformen einzuführen. Gemäß dem Parteiengesetz müssen auch sie einen Parteivorstand ausbilden, doch wie die Grünen in den 1980er Jahren sperren sich auch die Piraten gegen eine zu starke Finanzierung ihrer parlamentarischen Arbeit durch öffentliche Gelder. Die Grünen legten Ökofonds an, die Piratenpartei reichte beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen eine Erhöhung der Parteienfinanzierung ein.

Während die Grünen explizit Frauen in ihre politische Arbeit integrierten, dominieren bei den Piraten Männer. Während die Grünen in den 1980er Jahren ihre Zeit in Zügen verbrachten, um zu den Parteisitzungen anzureisen, und Wahlplakate malten, probieren es die Piraten mit Mailinglisten und „Mumble“. Die Grünen sind aus sehr starken sozialen Bewegungen hervorgegangen, die Piraten scheinen sich spontaner zusammenzufinden; ihr Unterboden – das politische Milieu – ist sozial weniger spezifisch ausgebildet als bei den Alternativen.

Innerparteiliche Konflikte wie die bei den Grünen zwischen Realos und Fundis zeichnen sich bei den Piraten derzeit nicht ab; auch wenn sich parteiinterne Auseinandersetzungen in ihrer Schärfe gleichen. Während die Grünen stark von ehemaligen Mitgliedern der SPD getragen wurden, die mit der Politik der Regierung Schmidt unzufrieden waren, scheinen die Piraten eine tatsächliche Neugründung zu sein, die sich aus den technischen Neuerungen des digitalen Zeitalters ergibt.

Wohin die derzeitige Eroberung der Parlamente durch die Piraten führt, vermag noch niemand zu sagen. Sicher scheint, dass sich auch die Piraten an einige Strukturen und Verfahrenswege der deutschen Politik werden anpassen müssen, daraus wird sich ihr Erfolg in den Landesparlamenten ergeben. Die Piraten können dabei von den Grünen lernen, denn nicht jede Hommage an die Basisdemokratie – wie die Zwei-Jahres-Rotation in den Parlamenten – war in der Vergangenheit auch von Erfolg gekrönt.

Im Gegenteil: Auch die Grünen mussten ihre Anpassungsbereitschaft und Kompromissfähigkeit innerhalb der etablierten Politik und in Kooperation mit den Altparteien unter Beweis stellen, um beispielsweise mit Joschka Fischer langfristig Machtpositionen zu besetzen. Idealisten der Anfangsjahre, wie Petra Kelly, scheiterten mit den politischen Umbrüchen von 1989/90.

Gleichzeitig stellen die Piraten die etablierten Parteien vor eine Bewährungsprobe. Protestwähler finden bei ihnen eine gute Alternative; Themen und Politikfelder zwischen SPD und FDP – Bürgerrechte und Sozialliberalismus – können durch die Piraten besetzt werden. Doch dafür bedarf es mittelfristig der Festlegung auf belastbare Positionen. Dann wird sich zeigen, ob es den Piraten gelingt, Wähler dauerhaft zu binden und stabile Erfolge zu erzielen.

Dr. Saskia Richter arbeitet als Post Doc an der Zeppelin Universität. Zuletzt erschien von ihr “Die Aktvistin. Das Leben der Petra Kelly“.