[kommentiert:] Franz Walter über den Wertewandel in der Union.
Sozialdemokraten bezeichnen ihre christdemokratischen Gegner immer noch gern in polemischer Absicht als „Konservative“. Doch sind Christdemokraten tatsächlich konservativ – wollen sie das überhaupt noch sein? Als politische Weltanschauung hat der Konservatismus in modernen Mediengesellschaften generell einen schweren Stand. Im Unterschied zu den meisten anderen politischen Ideologien verfügt der Konservatismus nicht über illuminierende Bilder von Zukunft. Konservative können nicht fröhlich auf der Panflöte der Menschheitsbeglückung spielen, können keine Sirenengesänge der Emanzipation anstimmen, dürfen nicht glänzenden Auges unbefangen dem Fortschritt zujubeln.
Denn schließlich gilt für Konservative eine politische Haltung, die allen Wunschbildern, Träumen, Utopien vom Anderssein mit erfahrungsgesättigtem Misstrauen begegnet. Denn Konservative setzen auf Bestand und Empirie, auf das Konkrete und Dauerhafte, auf Überlieferung und Geschichte. Das beraubt den Konservatismus des intellektuellen Glamours für alle Menschen und Gesellschaften, die sich rauschhaft dem dynamischen Wandel verschrieben haben, die enthusiastisch den Arkadien des jeweils Modernen entgegentänzelten.
Konservative verfallen nicht der suggestiven Magie des Neuen. Erst recht glauben sie nicht an die Plan- und Machbarkeit sozialen Wandels. Darin lag oft genug die Raison des konservativen Vetos. Konservative hatten nicht selten eine hohe Sensibilität für die Anmaßungen und Unduldsamkeiten fundamentaler Umwälzungen. Sie nahmen die Nachtschatten jeder Modernisierung wahr, die entheimatete, zerriss, entfremdete, desintegrierte – und dadurch radikalisierte.
Doch merkwürdig: Die klassische Partei des Konservatismus in Deutschland besitzt ein solches Sensorium längst nicht mehr. Sie begann, sich begeistert liberal zu gerieren, als die Strahlkraft des Liberalismus bereits erlosch. Ein Teil der christdemokratischen Parteielite entdeckte freudig die verpflichtungsfreie und multioptionale Lebensweise, als die zuvor noch begeistert modernen Menschen davon längst ermüdet waren und lieber verlässliche Ruhepunkte suchten. Das christdemokratische Freiheitspathos feierte bis zum großen Crash den Markt allumfassender Eigenverantwortlichkeiten, als ein zunehmend wachsender Teil der Bevölkerung gerade von der Politik eher Komplexitätsminderung in der permanenten Unübersichtlichkeit nachgerade bedrückender Entscheidungszwänge erwartete.Die früheren Konservativen zerlegten die staatlichen Institutionen und lockten private Anbieter, während eine Mehrheit der Bürger mindestens im öffentlichen Bereich nicht auch noch in die erschöpfende Rolle des ständig informierten, rechnenden, kalkulierenden, schnäppchenjagenden Konsumenten schlüpfen mochte.
Eben das hatte der klassische Konservatismus dem traditionellen und neu drapierten Liberalismus stets voraus: Er hatte die entlastende Funktion von dauerhaften Institutionen und habitualisierten Vorgängen erkannt, die den Menschen die Energie für das Wesentliche lassen, welche ihnen der ständige Improvisationszwang der deregulierten und konsequent vereinzelten Freiheitsgesellschaft nimmt. Genuine Konservative haben also für das wuchernde Penetrationsprinzip der Marktgesetze nichts übrig. Doch ein solcher Konservatismus hat in der CDU in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr an Boden verloren. Für genuine Konservative sind das daher keine leichten Zeiten. Sie sollen einer Partei die Treue halten, die sich zunehmend mehr selbst säkularisiert und von Traditionen gelöst hat: in der Familienpolitik, beim Embryonenschutz, in der persönlichen Lebensführung ihres Spitzenpersonals. Die christdemokratische Parteielite goutiert nunmehr selbst die Vorzüge bindungslockerer Individualität. Auch die Anführer der Christlichen Union wollen sich jetzt und künftig nicht mehr lebenslänglich Normen unterwerfen und davon final festbinden lassen. Zumindest wollen sie am Sonntagmorgen, auch wenn das Glockengeläut zum Kirchgang aufruft, lieber ausschlafen – so jedenfalls ließ sich die protestantische Pfarrerstochter und Kanzlerin Angela Merkel einmal vernehmen.
Sie können dabei auf den gesellschaftlichen Gesamttrend verweisen. Insgesamt haben sich die nachwachsenden Generationen den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen der christlichen Großkirchen entzogen. Das wird in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auch politisch und gesellschaftlich durchschlagen. Unter den 50 bis 59- Jährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16 bis 25- Jährigen sind das weit unter 10 Prozent. Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich liegt Deutschland im Jahr 2010 ganz hinten. In Bundesländern wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr 5 Prozent der repräsentativ befragten Bürger als „gottesgläubig“. Insofern muss die CDU auf Gebote und Mahnungen des institutionalisierten Christentums, zumal in diesen Monaten ruchbar gewordener Missbräuche und Heucheleien, nicht mehr besonders viel Rücksicht nehmen – und sie macht es auch nicht.
Konservativ-katholische Prinzipienorthodoxie ist unter den Anführern der CDU jedenfalls rar geworden, ohne dass vergleichbar tief wurzelnde, lagerüberspannende Einstellungsmuster an ihre Stelle getreten wären. Die Liberalisierung der Partei war gewiss fällig geworden. Doch sie hat unzweifelhaft auch zu einer spirituellen Leere geführt. In der modernen CDU herrscht normativ gewissermaßen eine Kantinenmentalität: Jeder nimmt sich aus den Vitrinen, was ihm kulinarisch gerade gefällt. Deshalb aber scheut die CDU entscheidungsorientierte Diskussion über die konstitutiven und hochumstrittenen Wertefragen von Politik und Gesellschaft. Sie fürchtet die Sprengkraft, wenn sich Konservative und Liberale, Traditionalisten und Modernisierer, Globalisierer und Heimatmenschen, Verlierer und Gewinner im Klein- und Großbürgertum über Normen und Ethiken des künftigen Zusammenlebens, also gleichsam auf ein gemeinsames Sinnmenü, einigen müssten. Denn zu einer solche Werteintegration ist das mehrheitlich verweltlichte und individualisierte Bürgertum in Deutschland kaum mehr in der Lage. Auch das, die Diffusion der eigenen politischen Identität, hat im klassischen Bürgertum die Sehnsucht nach einer Heilsgestalt prinzipiengesicherter, „gelebter“, stilsicherer, oratorisch funkelnder Konservativität entstehen lassen, die ihre Projektionsfigur in den Rostocker Pastoren Joachim Gauck gefunden hat – zu Lasten der säkularisierten CDU
So aber sind die Grundlagen des alten christdemokratischen Erfolgsmodells unübersehbar porös geworden. Die bemerkenswert geschmeidige Elastizität des früheren christdemokratischen Erfolgmodells war immer abhängig von den festen Wurzeln, die sie in den konservativen Lebenswelten besaß. Die Traditionsstoffe hatten die gesellschaftliche Integration ermöglicht, von der die Volkspartei nur zehrte, die sie aber nicht selbst herstellt und als rein weltliche Zweckgemeinschaft auch nicht herzustellen vermag.
Indes, seltsam ist das alles schon. Denn schließlich: Der Konservatismus in Deutschland verliert die Schlacht gegen den Modernismus in einer Zeit, in der dieser kulturell an Flair, Zauber und Attraktivität massiv einbüßt. In den Tiefenschichten der Gesellschaft wachsen die Bedürfnisse nach Bindung, Zuordnung, Sicherheiten, wenn man in diesen Tagen so will: nach Fahnen, Wimpeln, Gesang und Gemeinschaft. Kaum einmal in den letzten vierzig Jahren war das kulturelle Terrain infolgedessen günstiger für einen expliziten, selbstbewussten Konservatismus in Deutschland. Doch weiß die klassische Partei des Konservatismus an der Spitze dieser Republik mit einem klugen, ja weisen Konservatismus längst nichts mehr anzufangen. Jeder wie er es für richtig hält, heißt nun auch das Credo in Kreisen der Union. Reichen wird solche in die Jahre gekommene wurschtige Nonchalance für die Turbulenzen der nächsten Jahre und Jahrzehnte nicht.
Franz Walter leitet das Göttinger Institut für Demokratieforschung.