[analysiert]: Franz Walter über die schwindende gesellschaftliche Verankerung der Christdemokratie
Fast könnte man in diesen Wochen Mitleid mit den armen Christdemokraten bekommen. Über Jahrzehnte war die CDU die große Volkspartei und Weichenstellerin der alten Bundesrepublik. In der Konkurrenz mit den Sozialdemokraten hatte sie meist die Nase vorn. Sie besaß ein feines Sensorium für die Stimmung im Volke. Ihr hellwacher Instinkt für die Macht beeindruckte stets auch ihre härtesten Gegner. Vorbei das alles. Seit Monaten nun irren die Christdemokraten aufgeregt und kopflos durch die politische Landschaft.
Die Union leidet unter anderem daran, dass ihr durch den kalten Verdrängungsfuror der Kanzlerin in den letzten Jahren mit rascher Geschwindigkeit gleich zwei Führungsgenerationen weggebrochen sind. Für die FDP gilt das noch eklatanter. Das verkraftet keine Koalition spielend leicht. So hat die CDU nun all die glattgesichtigen Mitvierziger an die Front der Führungsreserve gestellt, die noch üben, proben, lernen müssen – was politische Anführer allerdings längst hinter sich haben sollten. Innerhalb ihrer eigenen Generation waren diese ewigen Jungunionisten in der Regel eher in der Minderheit. Ihre Altersgenossen optierten seit den Oberstufenjahren in gymnasialen Zeiten mehrheitlich und recht stabil für Rot-Grün.
Das wurde zu einer neuen, schwierigen Erfahrung für die CDU. Adenauer und lange auch Kohl strotzen noch vor Selbstbewusstsein, weil sie Mehrheit und Mitte der Gesellschaft eindeutig hinter sich wussten, daran zumindest fest glaubten. Das gab der CDU insgesamt ihre Sicherheit, Humus und Frucht der bundesrepublikanischen Gesellschaft, des „Rheinischen Kapitalismus“, der Konsens- und Mittelstandsgesellschaft zu sein. Diese Sicherheit aber ist fort. Die neuen Mittemilieus der Republik leben weder kulturell noch politisch im synchronen Einklang mit der Christdemokratie.
Begonnen hatte dieser Prozess bereits während der 1990er Jahre. Irgendwann in diesem Jahrzehnt zerfiel die christdemokratische Wählerschaft in gegensätzliche Mentalitäten und Einstellungen. Da waren weiterhin die Traditionsgruppen von deutschnationalen Protestanten auf der einen und Sozial- bzw. ländlichen Mittelstandskatholiken auf der anderen Seite. Und zudem entstand ein neues Jungbürgertum, das mit all den überlieferten christdemokratischen Einstellungen zunehmend weniger anfangen konnte. Die gewerblichen Jungbürger der globalen Wirtschaftstätigkeit hier gaben nichts mehr auf Heimatfolklore und soziale Verantwortung. Die jungen Postmaterialisten dort suchten Autonomie, diskursive Offenheit und Vergemeinschaftungen jenseits ständischer Überlieferungen und unhinterfragter Autoritäten. Das deutsche Bürgertum, aus dem sich zuvor der Kern des breiten christdemokratischen Bündnisses gebildet hatte, bekam so nach und nach tiefe Risse.
Erschwerend kam hinzu, dass es über den klassischen Kitt für die neuen Fugen nicht mehr verfügte. Der große Klebstoff der CDU war lange die Angst vor „Roten“ und „Chaoten“. Das hielt das deutsche Bürgertum politisch etliche Jahrzehnte zusammen, von Bismarck über Adenauer bis Kohl. Doch dann implodierte der Kommunismus, dann stimulierte eine neumittige SPD gar noch den rüden Finanzkapitalismus. Mit der Furcht vor der linken Gefahr ließ sich das neubürgerliche Lager nicht mehr sammeln und zusammenschweißen, zumal in der vergreisenden Gesellschaft mit vergleichsweise geringer Jugendarbeitslosigkeit bislang auch kein juveniler „Mob“ verängstigte Konservative zurück in die Arme der den wehrhaften Sicherheitsstaat postulierenden Christlichen Union trieb. Die früher straßenkämpferischen Grünen haben unterdessen graue Haare und arthrotische Beschwerden bekommen, konnten sich mit der Zeit und im fortgeschrittenen mittleren Alter dafür aber teure Anzüge und exquisite Weine leisten, kurz: Sie verbürgerlichten durch und durch, wurden von Revoluzzern zu Wahrern der für sie im Laufe der lebensgeschichtlichen Karriere durchaus kommoden Republik. Konservative Menschen fanden so allmählich Gefallen an der neuen Partei der Nachhaltigkeit und Schöpfungsschützer.
Zumal: Über drei Jahrzehnte hatten klassische Konservative und Frontmänner der Christdemokratischen Partei gegen den gleichen Gegner gekämpft: die 68er und ihr permissives Verhältnis zu Moral und Sitte, zu Institutionen und Verpflichtungen, zu Gott und Kirche. Aber zuletzt kämpften die prominenten Figuren der CDU nicht mehr gegen 68. Es schien eher, als hätten sie nun ebenfalls Gefallen daran gefunden, sich nicht mehr ein Leben lang personal und normativ zu binden, als würden auch sie es jetzt genießen, in wechselnden Lebensabschnitten neue Rollen auszuprobieren, als goutierten gerade sie die Freiheiten eines aller Zügel entledigten Individualismus. Man tobte sich kokettierend auf Facebook aus, stieß sich noch als 40 Jähriger munter die Hörner ab. Ja mehr noch: Man gewann den Eindruck, die alten linken Gegner mit 68er-Prägung hatten dies alles längst hinter sich gelassen, hatten bereits die Mühen und unangenehmer Folgen libertärer Entbindungsanstrengungen erlebt wie durchlitten, waren daher in den letzten Jahren eher zur Bodenhaftung zurückgekehrt, in die Häfen fester Beziehungen und kalkulierbarer Gewohnheiten eingelaufen.
Das wurde zu einer neuen Schnittstelle von geläuterten 68ern und neuem Konservatismus. Ein Beispiel: Eine ganze Generation von jungen Bauern und Winzern formierte sich in den letzten beiden Jahrzehnten, die ihren Wertekonservatismus gegen den Veräußerungskonservatismus der Väter wandten, sich in ihrer Wiederentdeckung der Natur und Traditionen auf die Groß- und Urgroßväter besannen. Das war genuin konservativ, aber es war nicht sentimental, nicht verkitscht.
Es rechnete sich sogar. Nur: Die Christdemokraten haben politisch nie so kalkuliert. Daher ging ihnen eine ganze Kohorte in einst pechschwarzen Regionen und christdemokratischen Hochburgen von den Fahnen – im Frühjahr 2011 hin zu den Grünen. Eine Erosion der klassischen Milieus, wie oft behauptet, hatte dabei keineswegs stattgefunden. Allein: Das Milieu hatte sich verändert. Und die Christdemokraten hatten es ignoriert. Daher schmolz ihnen politisch und elektoral weg, was sozialkulturell keineswegs aus den Regionalkulturen in Westfalen, an der Mosel, in Baden verschwunden ist.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.