[analysiert]: Torben Lütjen über den Mythos der Independents.
Es sind nicht mehr furchtbar viele Wähler übrig, um die sich Barack Obama und Mitt Romney in den letzten Wochen und Tagen des Wahlkampfes streiten können. Manche sagen, es seien vier Prozent, andere sprechen eher von sechs. Die übergroße Mehrheit der Amerikaner hat ihre Entscheidung jedoch längst getroffen. Und die meisten haben das schon lange vor Beginn der Wahlkampagne getan. Dafür brauchten sie kein Wahlprogramm, keine Fernsehdebatte und ganz gewiss haben sie sich nicht die Mühe gemacht, die letzten Arbeitslosenstatistiken zu studieren.
Es ist insofern erstaunlich, dass man während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 2012 in deutschen Medien über viele Monate hinweg wieder zuhauf den Mythos von der angeblich wachsenden Zahl der Independents unter den amerikanischen Wählern serviert bekommen hat. Gemeint sind mit den Independents die parteipolitisch nicht festgelegten Wähler, die man in unserer Terminologie als „Wechselwähler“ bezeichnen könnte. Es ist ein mittlerweile gut etabliertes Narrativ – und auch in den USA selbst durchaus weiterhin populär. Dass es sich schon so lange hält, hat wohl vor allem zwei Gründe: Zum einen verbirgt sich dahinter die hoffnungsvoll optimistische Sichtweise, dass die bitterböse Polarisierung der amerikanischen Politik mit ihrer schroffen Abgrenzung zwischen Republikanern und Demokraten nicht etwa die tatsächliche Spaltung der amerikanischen Gesellschaft widerspiegelt, sondern allein auf die Rechnung der politischen Eliten gehe, deren simple Freund-Feind-Codierung des Politischen den meisten Amerikanern in Wahrheit unverständlich, ja eigentlich sogar zuwider sei. Und zum anderen mögen gerade die Europäer die These von der schweigenden Mehrheit der Independents intuitiv höchst plausibel finden, da die Erosion ehemals stabiler Wählerbindungen hierzulande ja tatsächlich stattfindet (wenngleich sie wohl nicht ganz so dramatisch verläuft wie häufig genug dargestellt) und der Typus des unerschütterlichen „Stammwählers“ zur bedrohten Spezies gezählt wird.
Allein: Anders als in Europa sind die Wählerbindungen in den USA stärker und nicht etwa schwächer geworden. Der Mythos vom unabhängigen Wähler beruht auf einer zu oberflächlichen Betrachtung der Umfragen. Gewiss: Wenn man Amerikanern die Frage stellt, ob sie sich a)als Demokrat, b) als Republikaner oder c) als Independent betrachten, dann erhält man zwar in der Tat im Zeitverlauf eine wachsenden Zahl von Independents, und zwar annähernd 40 Prozent. Bei der Folgefrage jedoch: „Steht ihnen die eine Partei näher als die andere?“ benennen über zwei Drittel der Independents eine der beiden Parteien. Das alleine mag den Mythos der vielen unabhängigen Wähler vielleicht noch nicht erschüttern. Entscheidender ist noch, dass eine weitere Frage nach der tatsächlichen Stimmabgabe schließlich enthüllt, dass diese sogenannten Independent Leaners (also Independent Republicans, oder Independent Democrats) mit beinahe genauso schöner Regelmäßigkeit für „ihre“ Partei votieren wie jene Amerikaner, die sich vornherein als Anhänger der Demokraten oder Republikaner zu erkennen gegeben haben.
Kurzum: Wer sich als Independent bezeichnet, muss deswegen noch lange keiner sein. Nur eine klare Minderheit der amerikanischen Wähler präferiert auch auf Nachfrage keine der beiden Parteien. Das sind die sogenannten Pure Independents – und deren Zahl ist im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte stark zurückgegangen und betrug 2008 gerade noch 11 Prozent, Tendenz sinkend.
Was aber vielleicht noch sehr viel wichtiger ist: Die Pure Independents sind überdies politisch weniger interessiert, weniger informiert und neigen viel stärker zur Wahlenthaltung. Keineswegs also entsprechen sie dem Typus des rationalen Wählers, dessen Unabhängigkeit von einer nüchternen Nutzen-Kosten-Kalkulation herrührt; es sind eher die, die, salopp ausgedrückt, keine Ahnung haben und denen deswegen die eine Partei so sehr oder so wenig zusagt wie die andere.
Das macht ebenfalls deutlich, dass die weit verbreitete Vorstellung, moderne Kampagnen müssten auf die sogenannte „politische Mitte“ zielen, wenig Sinn besitzt. Diese nämlich ist, zumindest in den USA, eine ziemliche Schimäre, eine Fata Morgana, auf jeden Fall kein fixer programmatischer Punkt, auf den man sich bewusst zubewegen könnte – denn sie wird von Menschen bevölkert, die im Zweifelsfall selbst kaum wissen, was sie wollen.
Kein Wunder also, dass es stattdessen in amerikanischen Wahlkampagnen zum obersten Gebot geworden ist, die eigene Klientel zu mobilisieren, denn alleine das kann aufgrund der stark bipolaren ideologischen Verteilung des Elektorats wahlentscheidend sein. Und überdies wird es erst mit einer motivierten Parteibasis möglich sein, die eigenen Botschaften so deutungsmächtig werden zu lassen, dass das schwankende Segment der Independents ebenfalls überzeugt wird. Erst jetzt, auf den letzten Metern des Wahlkampfes und nachdem es beiden Seiten gelungen ist, ihre jeweiligen Kernanhängerschaften auf Betriebstemperatur zu bringen, adressieren beide Kandidaten mit ihren Botschaften stärker die zaudernden und unentschlossenen Wähler, vor allem in den Fernsehduellen.
Auf der Strecke geblieben ist bei alledem natürlich Obamas Anspruch, das Land versöhnen statt spalten zu wollen, und das Versprechen überparteilicher Kooperation. Der Präsident und sein Team haben sich in diesem Wahlkampf selbst der gesamten Klaviatur der Gegnerdiffamierung bedient. Schön und edel ist das nicht gerade gewesen, aber am Ende hat es wenigstens die eigenen Reihen geschlossen – und darauf kommt es eben an in einem Land, in dem die Zahl der wirklich unentschlossenen Wähler so gering ist. Auch Obama folgt nun dem Ratschlag von Karl Rove, dem mächtigen Präsidentenberater der George W. Bush-Jahre: Schneide das Land in zwei Teile; aber zerteile es so, dass dein Stück vom Kuchen ein kleines bisschen größer ist. Und vergiss die paar Krümel.
Dr. Torben Lütjen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Honorary Fellow am Department of Political Science der University of Wisconsin, Madison.