[analysiert]: Benjamin Wochnik über den jüngst verstorbenen türkischen Politiker Necmettin Erbakan
Am 28. Februar 1997 entmachtete das türkische Militär den damaligen ersten islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Fast genau 14 Jahre später, am 27. Februar 2011, ist der „Vater“ des türkischen politischen Islams im Alter von 84 Jahren gestorben. Über Jahrzehnte beeinflusste das politische Schwergewicht die gesellschaftlichen und politischen Debatten und Prozesse in der Türkei.
Vor seiner politischen Karriere studierte Erbakan Maschinenbau in Istanbul und promovierte in Aachen. Zurück in Istanbul lehrte er an der dortigen Technischen Universität, gründete eine Motorenfabrik und stieg später zum Vorsitzenden der Türkischen Industrie- und Handelskammer auf. 1969 trat er erstmals als politischer Akteur in Erscheinung. Erbakan gründete mehrere Parteien, die in regelmäßigen Abständen von der kemalistischen Justiz verboten wurden. Erbakans politisches Dogma, die Republik in eine „islamische gerechte Ordnung“ (Adil Düzen) zu überführen, stand konträr zur laizistischen kemalistischen Staatsideologie. Diese Divergenz war unter anderem Anlass für staatliche Sanktionen gegen Erbakan und seine Parteien.
Die gesellschaftspolitische Instabilität in der Zeit zwischen den Militärputschen von 1971 und 1980 bot dem Parteiführer Erbakan erhebliche Entfaltungsmöglichkeiten. Seine „Nationale Heilspartei“ (MSP) war ein Sammelbecken für Islamisten und religiös Konservative. Mit diesem Wählerpotential im Rücken gelang seiner Partei als jeweils kleiner Koalitionspartner der Sprung in drei Regierungen. Um sein politisches Engagement zu unterfüttern, gründete Erbakan eine islamistische Bewegung, Milli Görüş (Nationale Sicht). Diese antisemitische und islamistische Bewegung orientiert sich am Leitfaden der Adil Düzen. Sie entfaltete sich zu einer internationalen Bewegung, die auch in Deutschland über einen bedeutenden Ableger – die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e.V. (IGMG) – verfügt und vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Der Militärputsch von 1980 und ein Politikverbot unterbrachen Erbakans politische Karriere für einige Jahre. Nach einer Amnestie kehrte Erbakan 1987 mit der Nachfolgepartei der MSP, der „Wohlfahrtspartei“ (RP) auf die politische Bühne zurück. Erhebliche finanzielle Unterstützung erhielt die RP in den folgenden Jahren vom deutschen Milli Görüş e.V.
Und erneut öffnete sich aufgrund gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Krisen für Erbakan ein Gelegenheitsfenster. 1995 gewann seine islamistische Wohlfahrtspartei die Parlamentswahlen und Erbakan wurde im folgenden Jahr als erster islamistischer Ministerpräsident der Türkei vereidigt. Die kemalistische Türkei war geschockt und mit seinem islamistischen Dogma forderte der Ministerpräsident das kemalistische Establishment, allen voran das Militär – den Hüter des Kemalismus – in der folgenden Zeit permanent heraus.
Außenpolitisch distanzierte sich der bekennende Antisemit von der traditionell kooperativen Israelpolitik und wandte sich stattdessen dem Iran oder Libyen zu. Auf seine Initiative geht auch die Kooperationsgemeinschaft der sogenannten Developing-8 zurück. Bei diesen D-8 handelt es sich um acht muslimisch geprägte Länder, unter anderen der Iran, Pakistan und die Türkei, die sich 1997 zu einer Handels- und Entwicklungsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Erbakan wollte so ein wirtschaftspolitisches Pendant zu den damaligen „christlich und jüdisch geprägten“ G-7-Staaten generieren.
Innenpolitisch setzte Erbakan im Bildungswesen ein Ausrufezeichen. Er trieb den Ausbau der sogenannten Imam-Hatip–Schulen (Schulen für Prediger und Vorbeter) voran. Das Ziel des Ausbaus der religiösen Bildungsalternative war die Untergrabung des staatlich-laizistischen Schulsystems. Das glaubensbasierte Schulsystem Erbakans sollte einen Nährboden für seine „islamisch gerechte Ordnung“ bereiten. Eine der Stützen des kemalistischen Systems, der laizistische und auf Atatürks Lehren abgestimmte Schulapparat, geriet in Bedrängnis – ein moralischer Affront für die kemalistische Elite.
Mit diesen „islamistischen Aktivitäten“ überspannte er jedoch den Bogen und die Armee drohte dem Ministerpräsidenten am 28. Februar 1997 mit einem Putsch. Infolge der Drohung ließ die kemalistische Elite unter anderem Imam-Hatip–Schulen schließen und die wirtschaftlichen wie beruflichen Rechte nachgewiesener Islamisten einschränken. Diese Putschdrohung sorgte für eine faktische Entmachtung Erbakans. Wenige Monate später trat er zurück und das Verfassungsgericht erließ ein Verbot gegen seine Partei.
Erbakans geschlagene Islamisten suchten ihr Heil in einer vierten Parteineugründung – in der „Tugendpartei“ (FP). Der Putsch hatte jedoch zu einem Riss im homogenen islamistischen Lager geführt. Der „Hoca“ (Lehrer) Erbakan büßte seinen sicher geglaubten Führungsanspruch und sein ideologisches Deutungsmonopol ein. Die Islamisten spalteten sich in zwei Fraktionen – in Erneuerer und Bewahrer. Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdoğan, politische Ziehsöhne Erbakans, führten die Fraktion der pragmatischen Erneuerer an. Beide erkannten, dass der islamistische Weg in eine politische Sackgasse führte, fortan traten sie für eine islamisch-demokratische Variante ein. Sie formierten eine parteiinterne Opposition gegen die islamistischen Bewahrer. Erbakans kompromisslose islamistische Politik bestimmte dennoch weiterhin die Richtung der Partei, woraufhin auch die FP 2001 verboten wurde.
Erdoğan und Gül gründeten die heutige erfolgreiche türkische Regierungspartei AKP, die eine Legierung von islamischen und demokratischen Werten darstellt. Erbakan versank hingegen in politischer Bedeutungslosigkeit, aus der er bis zu seinem Tod nicht mehr hinausvortrat. Bei den Parlamentswahlen 2002 und 2007 lagen die Islamisten jeweils unter drei Prozent. Für die große Mehrheit der Türken wirken die Islamisten seit Anfang dieses Jahrtausends nur noch wie Erbakans Ideologie – obsolet.
Es scheint, dass mit dem Tod des Islamistenführers Erbakan auch der türkische Islamismus an sein Ende gekommen ist.
Benjamin Wochnik ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung und befasst u.a. sich mit Geschichte und Gegenwart der Türkei.