„Etwas hat sich verschoben…“

Beitrag verfasst von: Andreas Wagner

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[kommentiert]: Andreas Wagner über das politisch-parlamentarische Unbehagen in Europa.

Der Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, Konrad Paul Liessmann, sprach am vergangenen Freitag in der österreichischen Tageszeitung Der Standard von einer „Erosion des Politischen“. Gemeint war damit die Beobachtung fehlender politischer Authentizität und Wahrhaftigkeit in der österreichischen Politik, insgesamt aber auch eine Ökonomisierung und damit eine Bagatellisierung der parlamentarischen Abläufe und des politischen Geschehens. Mit diesen Mahnungen scheint Liessmann angesichts des schlechten Abschneidens der beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP bei der Parlamentswahl Ende September 2013 nicht allein. Die beiden Koalitionspartner verfügen im neuen Nationalrat gemeinsam nur noch über eine knappe Mehrheit, stattdessen haben rechte Populisten bislang ungeahnte Höhen erklommen und träumten zuletzt gar davon, künftig in einigen Landesteilen den Ministerpräsidenten stellen zu können.

Doch auch andernorts in Europa ist der Befund sich dramatisch verändernder politischer Rahmenbedingungen nicht unbekannt. Man stelle sich einmal folgende Szenarien vor: Die FDP wäre in der Bundesrepublik nicht innerhalb der letzten beiden Jahre in Umfragen unter die Fünf-Prozent-Hürde gefallen, sondern urplötzlich innerhalb weniger Wochen. Bei einem auf Augenhöhe und mit weitem Abstand zu den übrigen Parteien stattfindenden Zweikampf der beiden großen Volksparteien ändern sich durch blamable TV-Duelle vor einer Parlamentswahl plötzlich die Verhältnisse komplett: Einer der beiden Kontrahenten verschwindet in der Versenkung und eine andere Partei nimmt innerhalb von nur zwei Wochen dessen starken Platz ein. Die zwei stärksten Regierungsparteien büßen innerhalb von zwei Monaten der Regierungstätigkeit jeweils die Hälfte ihrer Stimmen ein. In Deutschland scheinen diese brachialen Umwälzungen derzeit zwar undenkbar, in den Niederlanden sind sie aber Teil der politischen Realität.

Im deutschen Nachbarland wirbeln in den Umfragetabellen des politischen Vorzugs insgesamt neun Parteien in allen erdenklichen Farben wild umher, ohne dass bislang langfristige Trends oder auch nur eine grundsätzliche Richtung zu erkennen wären. Die Unterscheidbarkeit von Groß- und Kleinparteien, noch mehr aber die Differenzierungen zwischen Volksparteien und den übrigen Gruppierungen gehören in den Niederlanden seit Langem der Vergangenheit an. Eingeläutet wurde diese Entwicklung bereits durch die Stimmenhalbierung der Christdemokraten Mitte der 1990er Jahre. Später kamen die Erfolge von Rechts- und Linkspopulisten wie Pim Fortuyn, Geert Wilders oder Jan Marijnissen hinzu. Gleichwohl sich die politischen Verhältnisse stets kurz vor den jeweiligen Parlamentswahlen ein wenig zu normalisieren scheinen, so erstaunlich sind derzeit doch die Ausmaße der verdrehten Umfragewelt: So führt der Rechtspopulist Geert Wilders mit weitem Abstand die Umfragen vor den Sozialisten und Sozialliberalen an – und die Haager Regierung vor. Als Kritiker des Haushaltskompromisses, den auch Teile der Opposition in der vergangenen Woche mittrugen, während die von der EU geforderten Einsparungen in Milliardenhöhe in den Niederlanden höchst umstritten sind, fährt Wilders den Kompromissparteien möglichst brachial über den Mund und geißelt die Beteiligten als „Leichtmatrosen“ inmitten eines schwarzen „Krematorium-Kompromisses“. Der Parteiführer der derzeit mit Abstand beliebtesten politischen Formation des Landes praktiziert damit jedenfalls Formen der Kritikäußerung, die in der eigentlich für ihre Techniken der Mäßigung und Kompromissfindung bekannten niederländischen Monarchie erfolgversprechend sind.

Doch nicht nur in den beiden Ländern Österreich und Niederlande mit ihren historisch festgefügten Lagern oder gesellschaftlichen Fundamenten, auch anderswo, etwa in Frankreich und Italien, regt sich öffentlicher Unmut über den Zustand des Politischen. Anders als in den sperrklauselfreien Niederlanden, wo diverse Parteineugründungen etwa aus dem Schatten der Rechtspopulisten zu beobachten sind, sind die alarmierenden Signale politischen Unwohlseins hier allerdings nicht-institutioneller Natur: Die französische Fassungslosigkeit über die Abschiebung einer kosovarischen Schülerin erzeugte eine ebenso deutliche Reaktion in Form von Demonstrationen wie das Vorhaben der Regierung, künftig gleichgeschlechtliche Ehen zu erlauben; in gleicher Weise das in einigen Landesteilen als unzulässige Korrektur des Wählerwillens wahrgenommene Berufsverbot Silvio Berlusconis, gegen das tausende Italiener demonstrierten.

Die bundesdeutschen Verhältnisse nehmen sich dagegen beinahe bescheiden aus. Betrachtet man den reinen Wählerwillen, so kam es innerhalb der letzten vier Jahre lediglich als die LINKE an den strauchelnden Grünen vorbeizog, zu einem längerfristigen Positionswechsel,. Doch eine breite Abkehr von den politischen Verhältnissen und Akteuren, wie in den europäischen Nachbarländern festgestellt, ist in der Bundesrepublik bislang ausgeblieben. Trotz NSA-Skandal, Unmut über die Verschwendung von Steuermitteln bei Drohnen oder Hin-und-Her beim Berliner Flughafen: Die Wahlbeteiligung und insbesondere der Zuspruch gerade für die etablierten Parteien stiegen bei der Bundestagswahl 2013 zuletzt gar noch.

Quelle: ARD Deutschland Trend im Zeitverlauf, eigene Darstellung

Und doch, gleichwohl die eingangs angeprangerte Achtungslosigkeit gegenüber der Politik, die für Liessmann in einer Erosion der politischen Öffentlichkeit mündet, in der breiten deutschen Bevölkerung nicht auszumachen ist: Die Austauschbarkeit einer langfristig etablierten Partei wie der FDP, die Gleichgültigkeit über ihr Verschwinden und das Wohlwollen,mit dem die numerisch kleinsten Opposition begrüßt wird, zeigen doch ein gewisses Gefühl der Belanglosigkeit.

Die vielfältigen Gründe der Erosion des Politischen – sei es unfreiwillige Komik etwa in TV-Duellen, die Skandalisierung des politischen Geschehens in Österreich oder die stetig wachsende Polarisierung des zerklüfteten niederländischen Parteienwesens – gelten kaum für sämtliche europäische Nachbarstaaten. Und doch berühren sie einen gemeinsamen Aspekt: Derzeit finden in vielen europäischen Gesellschaften Bewegungen statt, die Etabliertes verwerfen, Neues begrüßen oder die sich, wie im italienischen Fall, gegen diese Tendenzen verwehren möchten. Insgesamt sind die europäischen Gesellschaften nervös und auf eine beunruhigende Art unzufrieden mit der politisch-parlamentarischen Sphäre. Während in Griechenland der Protest an Sparvorhaben in extremistischen Parteien wie der „Goldenen Morgenröte“ kulminiert ist, werden Parteineugründungen als konkreter Ausdruck dieser Sentenzen der Unzufriedenheit in Zentraleuropa wesentlich friedlicher aufgenommen. Bereits etablierte Parteien oder solche, die erst kürzlich die ersten parlamentarisch-institutionellen Hürden übersprungen haben, gibt es derlei viele: In Österreich heißen sie NEOS – Das neue Österreich, in Italien sind es die Grillini von Beppe Grillos Movimento 5 Stelle, in den Niederlanden 50Plus oder immer noch die PVV von Geert Wilders und auch in Deutschland schöpften zuletzt AfD und in jüngerer Vergangenheit die Piraten das vorhandene Protestpotential ab.

Erstaunlich an der Bilanz dieser „Erosion des Politischen“ ist, dass vermeintliche Lösungen wieder zurück in das Politische münden – selbst wenn die Parteienpolitik wie etwa im Falle des italienischen Komikers Beppe Grillo zutiefst verachtet wird. Diese politischen Formationen finden großflächig Beachtung und etablieren sich mehr und mehr innerhalb des politischen Institutionengefüges und nicht außerhalb. Möge dies auch in Zukunft so bleiben.

Andreas Wagner arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.