Überflieger und Bruchlandungen

[kommentiert]: Julian Rabe kommentiert den Münchner Bürgerentscheid und die Bayern-Wahl 2013.

„In Bayern kann man einen Besenstiel schwarz anstreichen, und dieser würde gewählt werden.“ Mit dieser Binsenweisheit pflegte der Volksmund bayerische Landtagswahlen regelmäßig abzuqualifizieren – insbesondere in den 46 Jahren absoluter CSU-Mehrheit (von 1962 bis 2008). Doch das dortige Wählerverhalten ist – und war – keineswegs so festgefahren, wie es nördlich des Frankenwaldes und westlich des Allgäus wahrgenommen wird. Allerdings haben die Bayern bislang lediglich direkt vor den Haustüren Flexibilität gezeigt. Mit 69,9 Prozent im Landkreis Dingolfing-Landau, 76,3 Prozent im Kreis Roth und 80,1 Prozent in der Stadt Fürth gewannen sozialdemokratische Spitzenkandidaten die letzten Wahlen geradezu erdrutschartig. Die Sitzverteilung in den Parlamenten der zugehörigen Ebenen und ihre politische Historie zeigen jedoch, dass es sich bei diesen Gebieten keinesfalls um traditionelle SPD-Hochburgen handelt. Vielmehr konnten vor Ort jeweils geeignet erscheinende Kandidaten überzeugen.

Dass das bayerische Wählergemüt schwieriger kalkulierbar ist als häufig angenommen, wurde auch am 17. Juni 2012 beim Münchner Bürgerentscheid über den Bau einer dritten Startbahn auf dem Flughafen deutlich. Moderne Infrastruktur, mehr Arbeitsplätze, bessere wirtschaftliche Bedingungen – dieser Kitt, der Union, SPD und FDP bereits in der Stuttgarter Bahnhofsfrage an einem Strang ziehen ließ, verband auch in München ein solches von zahlreichen Wirtschaftsverbänden unterstütztes Bündnis.

Doch am Ende setzten sich die Gegner durch, angeführt von Grünen und Freien Wählern (FW). Dabei hätte eine dritte Startbahn nicht einmal unmittelbar negative Auswirkungen auf das Leben in der Stadt München gehabt, da der Flughafen im Landkreis Erding liegt. Dass die Münchner dennoch allein abstimmen durften, ist den Beteiligungsverhältnissen in der Flughafengesellschaft geschuldet.

Wie aber kann es sein, dass eine Wirtschaftskoalition in einer Wirtschaftsmetropole eine solche Schlappe erleidet? Unwahrscheinlich, dass im Münchner Glockenbachviertel rund 55 Prozent den Bau ablehnten, um die Köpfe der Erdinger Nachbarn aus der Schlinge zu ziehen. Ein Indiz für die regionalen Ursachen liefert die Wahlbeteiligung: Lediglich ein knappes Drittel der Bürger hatte sich am Urnengang beteiligt. Gewiss: Nachdem die Wahlbeteiligung selbst bei den bayerischen Landtags- und Kommunalwahlen zuletzt unterhalb von 60 Prozent stagnierte, galt es nun öffentlich als Erfolg, dass beim Bürgerentscheid von drei Bürgern immerhin einer sein Kreuz abgab. Bemerkenswert ist daran: Obwohl die Befürworter mit tausenden Arbeitsplätzen ohne eine besondere Einschränkung der Lebensqualität lockten, ließen sich nicht mehr Menschen für die Abstimmung mobilisieren. Das Lohn-und-Brot-Thema, das sich bei zahlreichen vergangenen Wahlen als wichtiger Mobilisierungsfaktor erwiesen hatte, hat dieses Mal offenbar kaum gezogen.

 „Wenn wir unsere Infrastruktur nicht auf die Zukunft vorbereiten, dann sägen wir den Ast ab, der uns alle trägt“, warnte etwa der Präsident der Deutschen Luftverkehrswirtschaft. Dabei verfügt München bereits heute über glänzende wirtschaftliche Aussichten: Die Arbeitslosenquote nähert sich dem Niveau der Vollbeschäftigung. Entgegen dem bundesweiten Bevölkerungsrückgang wird der Stadt ein Zuwachs von rund 15 Prozent in den nächsten zwanzig Jahren prognostiziert. München steht damit, wie auch die Umlandgebiete, an der Spitze der demografischen Ausnahmeregionen Deutschlands, was weniger an der Geburtenrate als vielmehr am vorwiegend erwerbstechnisch motivierten Zuzug liegt.

Die Kehrseiten des Erfolgs stecken den Münchnern jedoch schon heute in den Knochen: Akuter Wohnungsmangel, horrende Mietpreise, hohe Lebenshaltungskosten und öffentliche Verkehrsnetze, die an den Grenzen ihrer Kapazitäten ächzen. Da erscheint weiteres Wachstum wie eine Überdosis. Die Zeiten von „höher, schneller, weiter“ seien vorbei, heißt es in einer Mitteilung der Landes-Grünen. Vor dem Hintergrund der regionalen Luxusprobleme Münchens erscheint diese Analyse plausibel. Die Kritik des konventionellen Wirtschaftswachstums zulasten fossiler Ressourcen ist ein prägender Bestandteil der grünen Parteikultur. Die Freien Wähler bearbeiten hingegen gemäß ihrem Selbstverständnis fernab von Parteiideologien örtliche Problemstellungen, was in diesem Fall zu der Auffassung führte, dass München im Gegensatz zu anderen Regionen Bayerns keinen Bedarf nach einer weiteren Wachstumsspritze habe. Aus unterschiedlichen Perspektiven gelangte man zur gleichen Überzeugung.

Doch das Bindeglied zwischen Grünen und Freien ist ebenso wenig ein Zufallsprodukt wie ein Münchner Novum: Beide Verbände stehen Investitionen in infrastrukturelle Großprojekte kritisch gegenüber und werden in ihrer Skepsis unter anderem durch ihr Bekenntnis zu rigider Haushaltsführung bestärkt – wobei sich die Grünen grundsätzlich eher einen starken, aber durch eine hohe Staatsquote nachhaltig wirtschaftenden Staat wünschen, während große Teile der FW ein niedriges Steuerniveau präferieren und vor einer Aufgabenüberlastung der öffentlichen Hand warnen. Weitere Schnittmengen finden sich in den Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung in politischen Prozessen, dem Ausbau direktdemokratischer Elemente und der Bewahrung natürlicher Ressourcen.

Die genannten Überzeugungen lieferten nicht nur eine gemeinsame Grundlage beim Bürgerentscheid, es sind auch Themen und Werte, die für bürgerliche Wähler bedeutend sind. Eine Studie zum Wahlverhalten der bislang vorwiegend kommunalpolitisch tätigen Freien Wähler in Baden-Württemberg zeigte zur Bundestagswahl 2002, dass im traditionellen Lager der Unabhängigen, hier definiert als vor 1972 gegründete Verbände, fast 85 Prozent für die Union oder FDP stimmten. Unter den neueren Gruppierungen genossen hingegen die Grünen mit 38,5 Prozent die größte Präferenz, Union und FDP kamen gemeinsam auf rund 43 Prozent. Während die Grünen erst mit der beruflichen Etablierung ihrer Gründergeneration in das bürgerliche Lager vorgedrungen sind, versammeln sich bei den Freien seit jeher vorwiegend bürgerlich orientierte Parteilose auf kommunaler Ebene.

All das bedeutet: Im kommenden Jahr konkurrieren in Bayern CSU, Grüne, FW und FDP um die gleichen Wählerschichten. Ein Riss im bürgerlichen Lager ist erkennbar, denn die Freien streben an, gemeinsam mit SPD und Grünen die Partei von Franz Josef Strauß im Freistaat in die Opposition zu schicken. Seit ihrem Landtagseinzug 2008 ist die Kluft zur CSU gewachsen. Die generelle Kritik an Parteien, die sich den Staat zur Beute machen würden, zählt zum Wesenskern der Freien. Sie werfen der CSU Überheblichkeit und Vetternwirtschaft vor, so etwa Anfang 2011 bei der Wahl des damaligen Sprechers der Bundesregierung, Ulrich Wilhelm, zum Intendanten des Bayerischen Rundfunks. Die CSU passe nicht mehr in die Zeit, rügte der FW-Vorsitzende Hubert Aiwanger 2009. Aiwanger hält seinen Verband aber für „Fleisch vom Fleische“ der Christsozialen, wie er nach der Kommunalwahl 2008 noch betonte.

In Anlehnung an dieses Bild müssen CSU und FDP nun Acht geben, sich keine Blutvergiftung zuzuziehen. Der Versuch, durch politische und juristische Finessen am Ende doch noch den Flughafen auszubauen, würde nicht nur den Münchner Bürgerentscheid aushebeln, sondern gleichzeitig das in Bayern besonders stark verankerte und geschätzte Prinzip kommunaler Selbstverwaltung ad absurdum führen. In bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit erklärte etwa Bayerns liberaler Wirtschaftsminister Martin Zeil nach der Auszählung, er halte ohne Wenn und Aber am Ausbau fest und sei überzeugt, eines Tages auf der dritten Startbahn landen zu werden. Dies weckt dunkle Erinnerungen an die einstige, später bedauerte Aussage des früheren CSU-Chefs Erwin Huber, nach der man die Frösche nicht um Genehmigung bitten dürfe, wenn man den Teich trockenlegen wolle.

Der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2013 und Münchner Oberbürgermeister, Christian Ude, scheint schon eher Lehren aus der Abstimmung gezogen zu haben. Das Ergebnis muss für ihn, trotz gegenteiliger Einschätzungen strategischer Natur, enttäuschend sein; denn er befürwortete nicht nur den Ausbau, sondern hatte sogar die zustimmende Positionierung der bayerischen SPD zur Bedingung für seine Spitzenkandidatur erklärt. Nun hat er ausgerechnet in München, wo er seine Wahlergebnisse seit 1993 auf zuletzt 66 Prozent ausbauen konnte, die Stimmung offenbar falsch eingeschätzt. Anders als CSU und FDP gab sich der OB jedoch demütig und erkannte das Votum als Grundlage für sein weiteres Handeln in der Flughafenfrage an. Ob dieser Dämpfer zu einer Delle in Udes Popularität führt, bleibt abzuwarten. Dennoch spricht einiges dafür, dass Ude im Vorfeld der Landtagswahl ein zentraler Akteur bleiben wird. Sein immenser Sachverstand in Fragen der Kommunalpolitik ist neben dem Wunsch, die von der CSU dominierten Strukturen im Freistaat aufzulockern, eine der wenigen Grundlagen, auf der ein Bündnis aus SPD, Grünen und Freien aufgebaut werden könnte. Zu Jahresbeginn 2012 übertrumpfte Ude in einer Umfrage den CSU-Regierungschef Horst Seehofer noch bayernweit in nahezu allen Kompetenzbereichen. Seehofer hatte lediglich bei einer Frage die Nase vorn – bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten.

Die Möglichkeit eines Bündnisses gegen die CSU scheint insofern insgesamt sehr gering. Andererseits zeigen die eingangs erwähnten Fälle, dass starke Kandidaten in Bayern durchaus unabhängig vom Parteibuch erfolgreich sein können. Die Landtagswahl verspricht also durchaus spannend zu werden, denn klar ist zudem: Der schwarze Besenstiel hat auch in Bayern ausgedient. Die bisherigen Überflieger würden nach der Landtagswahl 2008 und der diesjährigen Flughafenabstimmung nicht die erste Bruchlandung erleiden.

Julian Rabe studiert Politikwissenschaften an der Universität Göttingen.