[analysiert]: Benjamin Wochnik ordnet die Relevanz der anstehenden Parlamentswahlen in der Türkei ein.
Am Abend des 12. Juni 2011 wird Ministerpräsident Erdoğan vor die türkische Presse treten und im Blitzlichtgewitter den Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zelebrieren. Auf diese Weise endeten jedenfalls bereits die letzten beiden Parlamentswahlen der Jahre 2002 und 2007. Laut der verschiedenen Wahlprognosen wird sich auch am kommenden Wahlsonntag daran nichts ändern. Doch trotz eines erneuten Wahlsieges könnte sich die AKP ebenso als Verliererin fühlen – dies hoffen zumindest die politischen Oppositionellen. Die entscheidende Frage bei dieser Wahl ist demnach nicht, ob die AKP gewinnt, sondern ob sie eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erreicht.
Neben der AKP wird mit Sicherheit nur dessen Hauptkonkurrentin, die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, ins türkische Parlament einziehen. Die nationalistisch-rechtsextreme MHP, welche im aktuellen Parlament neben der CHP eine der Oppositionsparteien ist, bangt um ihren Wiedereinzug. Die kurdische BDP wird, wie schon 2007, ihre Kandidaten als Unabhängige in die Wahl zu schicken. Auf diesem Wege könnte die unverhältnismäßig hohe Zehn-Prozent-Hürde umgangen und später eine Fraktion gebildet werden. Alle anderen Parteien werden an der Sperrklausel scheitern.
Erdoğans präsidiale Vision
Aufgrund des türkischen Mehrheitswahlrechts würde jedoch das Scheitern der Rechtsextremen die Sitzverteilung derart beeinflussen, dass sich die AKP begründete Hoffnungen auf eine Zweidrittelmehrheit machen könnte. In diesem Fall wären nicht nur die MHP aus dem Spiel, sondern auch die CHP und die wenigen kurdischen Unabhängigen. Denn eine Zweidrittelmehrheit legitimiert die Regierungspartei, Verfassungsänderungen ohne Zustimmung der Opposition durchzusetzen. (Bei einer Dreifünftelmehrheit müssten die Änderungswünsche immerhin ein Referendum passieren.)
Dieses ambitionierte Ziel verfolgt Erdoğan, der Abdullah Gül als nächster türkischer Präsidenten beerben möchte. Erdoğan und seine AKP planen in den kommenden Jahren das türkische politische System zu transferieren – von dem aktuellen parlamentarischen in ein präsidentielles System –, um somit Erdoğans megalomane Pläne in Stein zu meißeln. Die Kemalisten, Rechtsextremen und Kurden sitzen demnach in einem Oppositionsboot. Scheitert die MHP an der Sperrklausel, könnte die gesamte Opposition auf lange Sicht Erdoğans autokratisch anmutender Politik ausgesetzt sein.
2002 errang Erdoğans AKP bereits sensationell eine verfassungsändernde Mehrheit, konnte sie jedoch nicht nach Belieben nutzen. Die kemalistische Elite hatte damals noch Verwaltung sowie Justiz im Griff und die Armee wachte als putschbereite Hüterin des Kemalismus über Staat, Politik und Gesellschaft. Diese innerstaatlichen Machtkonstellationen haben sich seit 2002 allerdings durch einen stetigen Demokratisierungsprozess sukzessive zugunsten der islamisch-konservativen AKP verschoben.
Heute sitzen weitestgehend Regierungstreue an den administrativen und justiziellen Schalthebeln. Selbst der immense Einfluss der ehemals allmächtigen Armee wurde durch Verhaftungen ranghoher Militärs und Gesetzesänderungen entscheidend reglementiert. Doch nach Jahren progressiver Demokratisierungsreformen mit der Absicht des EU-Beitritts scheint die Regierungspartei und allen voran Ministerpräsident Erdoğan andere Ziele zu verfolgen. Seine „One-Man-Show“ wirkt selbstherrlich und er agiert innenpolitisch zunehmend autokratischer. Seine Anhänger stilisieren ihn schon als Meister oder Sultan, er kokettiert mit diesen überzogenen Huldigungen und gibt sich als treuer Diener des türkischen Volkes. Die autoritäre Politik der AKP spiegelt sich besonders in ihrem repressiven Umgang mit regierungskritischen Journalisten und Demonstranten wider.
Des Weiteren werden seit einem Jahr Oppositionspolitiker durch Internetvideos diskreditiert, die sie in außerehelichen sexuellen Aktivitäten zeigen. Der ehemalige Vorsitzende der CHP und zehn führende Politiker der MHP traten deshalb bereits zurück. Die MHP steht seitdem unter extremen öffentlichen Druck und rangiert bei Umfragen nur noch bei mageren zehn Prozent. Diese Erpressung nutzt allein der AKP und deren Gönnern, weshalb die AKP oder auch der staatliche Geheimdienst in Verdacht geraten, Auftraggeber dieser Videos zu sein.
Oppositionelle Befürchtung und Hoffnung
Die gesamte türkische Opposition misstraut derweil den Demokratiebeteuerungen und -versprechen der Regierungspartei. Die Oppositionellen fürchten, dass Erdoğan ihnen als möglicher zukünftiger und mächtiger Präsident ein autoritäres Korsett aufoktroyieren werde, in dem sie nur begrenzt agieren könnten.
Deshalb sind sich Kemalisten, Kurden und Rechtsextreme in einem Punkt einig: Dem vermessenen Herrschaftsdurst Erdoğans muss Einhalt geboten werden. Um der AKP eine verfassungsändernde Mehrheit streitig zu machen und somit die Einführung eines Präsidialsystems zu verhindern, ist es vonnöten, dass neben der CHP und der kurdischen Fraktion auch die angeschlagene MHP ins nächsten Parlament gewählt wird. Nur diese Konstellation böte der Opposition im kommenden Verfassungsdiskurs genug politisches Gewicht auf, um wirksam Einfluss zu nehmen und die AKP zu Kompromissen zu zwingen.
Die rechtsradikale MHP könnte so paradoxerweise als eine Art demokratisches Korrektiv wirken – wenn auch wider ihre Natur.
Benjamin Wochnik ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.