Tu miser Austria!

[kommentiert]: Oliver D’Antonio über die gesellschaftliche und politische Stimmung in Österreich.

Lange Zeit galten Deutschlands kleine Nachbarn als Vorbilder bei der Bewältigung der großen Fragen spätindustrieller Gesellschaften: Die niederländische Integrationspolitik schien die Vision einer multikulturellen Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Die plebiszitäre Demokratie der Schweiz brachte virtuos die Elitenpolitik mit den Partizipationsbedürfnissen der Eidgenossen zusammen. Und in Österreich wurden eine robuste Wirtschaft und relativer Wohlstand unter den Bedingungen sozialen Friedens und eines konsensualen Politikstils erreicht.

Doch Deutschlands kleine Nachbarn wurden nach und nach entzaubert: In den Niederlanden wurde eine schwelende Islamfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung offensichtlich und die Schweiz demonstrierte, dass Volksentscheide zur Unterdrückung von Minderheitsinteressen und zum Erfolg von Populisten missbraucht werden können. Und Österreich? Die „kleine Bundesrepublik“  erlebte in den Jahren um die Jahrtausendwende einige kurze, aber heftige Erschütterungen: Mit dem fulminanten Aufstieg der rechtspopulistischen FPÖ und dem konfrontativen Stil der neuen schwarz-blauen Bundesregierung wurden die eingeübten Konsens- und Politikmuster aus den Angeln gehoben. Die Angriffe der Regierung auf den Einfluss der Gewerkschaften mündeten in ein außergewöhnlich heftiges Streikjahr 2003. Nach diesen stürmischen Jahren kehrte Österreich allerdings auch schon wieder zum business as usual zurück. 2006 folgte zum zehnten Mal in der Zweiten Republik auf eine Nationalratswahl eine Große Koalition aus SPÖ und ÖVP. Seit 2005 verzeichnete die Wirtschaftskammer keine einzige Streikminute in der Alpenrepublik. Die globale Wirtschaftskrise tangierte das Land nur mäßig und in der Arbeitslosenstatistik aller EU-Staaten grüßt Austria seit Jahren fröhlich vom letzten Platz mit Werten von unter fünf Prozent. Tu felix Austria! Der Habsburger Leitspruch könnte auch im 21. Jahrhundert Gültigkeit beanspruchen.

Im Juli 2012 hat sich nun eine Gruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung auf den Weg gemacht, das scheinbar glückliche Land zwischen Inn und Donau zu besuchen. Vier Tage verbrachten wir in der Hauptstadt Wien, sprachen mit Parteipolitikern, Journalisten, Kirchenleuten und Wissenschaftlern. Die Eindrücke der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer laufen freilich auseinander – und doch verdichtete sich der Eindruck vom miser Austria, vom unglücklichen Österreich. Doch warum eigentlich? Alle Gesprächspartnerinnen und -partner konstatierten eine gewisse Unzufriedenheit, eine Trägheit, eine negative Grundstimmung im Land. Vielfach reagierten sie ratlos, denn weiterhin gelte ja, dass es dem Land ökonomisch wie sozial recht gut gehe. Es sei eben ein bisschen in der Kultur verankert, das Nörgeln in Österreich; zumal es auf vergleichsweise hohem Niveau geschehe. Denn immer noch ist der Organisationsgrad in den Parteien und Gewerkschaften recht hoch, ebenso erlitt die Wahlbeteiligung keine so fulminanten Einbrüche wie beim großen Nachbarn Deutschland. Und Sozialpartnerschaft und Konsenspolitik funktionieren auch weiterhin solide. Als wollte man den Göttingern das Funktionieren der Konsenspolitik demonstrieren, verabschiedete der Nationalrat während unseres Aufenthaltes die Zustimmung zum anderswo hoch kontroversen Euro-Rettungsschirm locker mit einer Zweidrittelmehrheit. Insofern sehen längst nicht alle, mit denen wir sprachen, den dringlichen Bedarf nach dem ganz großen reformatorischen Wurf.

Jedoch ist zu erahnen, dass über der Republik eine tiefe Depression liegt, die fast schon krisenhafte Züge aufweist und die mit dem Begriff des bloßen Nörgelns nicht mehr annähernd erfasst werden kann. Die Eliten, die dies wahrnehmen, sehen sich zu Reforminitiativen angehalten, bleiben dabei jedoch sehr defensiv und zurückhaltend, auch in ihrem Anspruchsniveau. Junge Sozialdemokraten gründen eine kleine Gruppe, die den verknöcherten Parteiapparat von innen heraus reformieren will. Junge ÖVPler wollen gar die Verfasstheit der österreichischen Demokratie auf ein erweitertes Maß an gesellschaftlicher Mitbestimmung hin wandeln. Die Grünen präsentieren sich als pragmatische und dennoch innovative Reformkraft mit dem Willen zur Macht im Staate. Doch selbst diejenigen, die Referentenposten in den Parlamenten besetzen oder gar jahrelang Programme für eine Regierungspartei verfassten, bemerken, dass gegen die politische Kultur, den mentalen Konservatismus und die relative systemisch Trägheit nur wenig zu machen sei. Selbst Linke und Alternative seien eben nicht nur links und alternativ, sondern eben vor allem Österreicher. Das hören wir oft. „Was sollen wir machen? Es ist das System“, auch das wird uns mitgeteilt. Es ist paradox: Was andernorts die resignierte Feststellung des Normalbürgers ist, wird hier von jenen ausgerufen, die das „System“ zu großen Teilen tragen und mitgestalten.

Bei der Suche nach den historischen Ursprüngen dieser Mentalität treffen wir häufig auf das Jahr 1934, den Bürgerkrieg und den Übergang zum Austrofaschismus, aber auch auf die sozialen und politischen Konflikte, etwa die Streikwellen, in den frühen 1950er Jahren. Zur Stabilisierung des Landes installierten die Nachkriegseliten ein System des politischen und sozialen Konsenses, in dem Große Koalitionen, Proporzregelungen,  friedliche Konfliktlösung sowie geschlossene Verhandlungssysteme wie die Sozialpartnerschaft zwischen Wirtschafts- und Arbeitnehmerverbänden installiert wurden.[1] So etablierte sich ein Komplex von hoher politischer Stabilität und dauerhaftem sozioökonomischem Frieden. Harmonie, Konsens und Geschlossenheit waren die Leitlinien Österreichs nach 1950. Doch bildete dies auch den Nährboden für Intransparenz, Korruption, Patronage, Ämterhäufung, Vetternwirtschaft. Zudem führte der notorische Harmoniereflex dazu, dass die Österreicherinnen und Österreicher nie ernsthaft lernen mussten, Konflikte friedlich auszutragen, Gegensätze auszuhalten oder dass Partizipation außerhalb der Institutionen möglich oder gar erfolgreich sein könnte. Ein kritischer medialer und öffentlicher Diskurs, eine Aufarbeitung der eignen Geschichte, all dies kam nur mühsam und in gedämpfter Form zustande. Und die Konsenseliten vergaßen, das Volk einzubinden, verlernten, dass es zur Mobilisierung für eigene Konzepte nutzbar ist.

Nicht zuletzt deshalb stehen die anderen Parteien seit zweieinhalb Jahrzehnten gleichermaßen rat- wie fassungslos vor der rechtspopulistischen Strategie der FPÖ, die massiv auf die konfliktmotivierte Mobilisierung der Bevölkerung im flachen Land setzt. Ihnen fehlen hingegen die Waffen, da sie selbst in ihrer Institutionenfixiertheit zu keiner Gegenmobilisierung fähig oder auch willens sind. Politik mache man schließlich für die Menschen, aber keinesfalls mit ihnen. Ein junger Sozialdemokrat meint, man wolle mit politikfähigen Konzepten gegen soziale Probleme vorgehen und keine Empörungsgesellschaft gegen die FPÖ mobilisieren. Doch die österreichische Depression ist nicht allein sozioökonomisch zu verstehen, sie liegt in der politischen Kultur des Landes selbst begründet. Die angeblich konservative Mentalität der Österreicher, die die Reformträgheit legitimiert, ist ein vorgeschobenes Argument der politischen Eliten, die auch fast achtzig Jahre nach Bürgerkrieg und Austrofaschismus der Ansicht sind, ihren Bürgern keine Gegensätze zumuten zu können. Überdies würden offen ausgetragene Konflikte das Kartell aus Parteien und Verbänden unhaltbar werden lassen, welches nach Jahrzehnten eingespielt ist und die Pfründe der österreichischen Machteliten absichert.[2] Doch polarisierende Kräfte haben Österreichs Gesellschaft längst erfasst und brechen sich bislang noch in den Wählerstimmen für FPÖ und BZÖ Bahn. Während sich die anderen Organisationen um Reformkonzepte für Demokratie und Verfassung in geschlossenen Sälen bemühen, ohne dabei eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen, werden die Rechtspopulisten weiterhin von unten her mobilisieren. Die Österreicher werden eine neue politische und demokratische Kultur entwickeln. Ob die Parteien bereit sind, diesen Prozess zu begleiten und mitzugestalten oder ob sie dieses Feld den Wutbürgern und Populisten überlassen, liegt vor allem an ihnen selbst.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Einige Eindrücke von der Wienfahrt finden Sie hier.


[1] Zum politischen System Österreichs vgl. Anton Pelinka: Das politische System Österreichs, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aktualisierte und überarbeitete Auflage, Opladen 2003, S. 521 ff.

[2] Österreichs Parteiensystem trägt durchaus Züge eines Kartells, wie es Katz und Mair theoretisch beschrieben haben. Vgl. Richard S. Katz/Peter Mair: Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, 1995 (1), H. 1, S. 5 ff..