[präsentiert]: Interview mit den Herausgebern der Studie über die Pädophilie-Debatte
Im Wahljahr 2013 entflammte in Deutschland eine heftige Debatte über Pädophilie und Pädosexualität. In deren Zentrum stand die grüne Partei, in der in den 1980er Jahren Forderungen nach einer Legalisierung von pädosexuellen Kontakten debattiert und beschlossen wurden. Diese aus heutiger politischer Sicht unverständliche Forderung war indes weder nur basisdemokratisches Kuriosum noch bloßer Zufall. Die vom Institut für Demokratieforschung durchgeführte Studie zum Thema zeigt, dass bereits ab den 1970er Jahren ein vielfältiger gesellschaftlicher Diskurs über eine Enttabuisierung von Pädophilie wie die Legalisierung von Pädosexualität stattgefunden hat. Im Interview fassen die Herausgeber der Studie, Franz Walter, Stephan Klecha und Alexander Hensel, zentrale Ergebnisse zusammen.
Professor Walter, Sie haben auf Bitten des Bundesvorstands von Bündnis 90/die Grünen die damalige Debatte über Pädophilie bei den Grünen erforscht. Wie ist es dazu gekommen?
Franz Walter: Die Debatte kam im Frühjahr 2013 auf: Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle weigerte sich, als Laudator für Daniel Cohn-Bendit zu fungieren. Der Grund war ein Buch aus der Mitte der 1970er Jahre, in dem Cohn-Bendit über seine Zeit als Kindergärtner geschrieben hatte, dass Kinder ihm damals in die Hose gefasst hätten, wobei er ihnen keine Grenzen gesetzt habe. Die Auseinandersetzung um das Buch war keineswegs neu und Cohn-Bendit behauptete seit längerem, es habe sich um Fiktion gehandelt. Im Zuge der neuerlichen Debatte um den Text kam die Frage auf, ob beziehungsweise in welchem Umfang im alternativen Milieu insgesamt eine Offenheit oder gar Billigung gegenüber Pädophilie geherrscht habe. Dies lenkte natürlich die Aufmerksamkeit auf die Grünen, welche dieses Milieu parteipolitisch repräsentierten. Die Grünen wiesen diesen Vorwurf zunächst entschieden zurück, mussten aber nach und nach einräumen, dass es in ihrer Partei solche Forderungen gegeben hatte und dass gar Beschlüsse gefasst wurden. Aus diesem Grund bat der Parteivorstand von Bündnis 90/Die Grünen das Göttinger Institut für Demokratieforschung, die Historie zu diesem Punkt aufarbeiten.
Welche Frage haben Sie genau verfolgt und wie sind Sie vorgegangen?
Stephan Klecha: Wir haben analysiert, wie die damalige »Pädophilie-Debatte« innerhalb der grünen Partei und in ihrem Umfeld verlaufen ist. Dabei haben wir nachvollzogen, woher diese Debatte historisch überhaupt gekommen ist, von welchen zentralen Akteuren sie getragen und protegiert, aber auch, von wem sie bekämpft wurde. Dazu haben wir uns natürlich eingehend mit den damals relevanten Diskursen in Wissenschaft und Publizistik über Sexualität, Erziehung und das Recht beschäftigt. Ebenso interessant war für uns, wie politische Akteure in diesem Themenbereich agiert haben. Um dies herauszufinden, haben wir eine große Anzahl von Archiven besucht und haben historische Dokumente verschiedener Parteien, Organisationen und Bewegungen gesichtet. In Verbindung mit Zeitzeugengesprächen konnten wir so klären: Was waren Grundlagen und wer waren die Protagonisten der Debatte? Warum verfingen bestimmte politische Forderungen und Vokabeln damals, die heute einen Sturm der Entrüstung auslösen würden? Schließlich: Warum schlugen sich entsprechende Forderungen später bei den Grünen nieder?
Das Thema Pädosexualität zu erforschen, muss zuweilen belastend gewesen sein. Wie sind Sie damit umgegangen?
Alexander Hensel: Der Umgang mit dem Thema Pädosexualität ist natürlich schwierig. Zu Anfang hat uns der Ruf nach einer Legalisierung von pädosexuellen Kontakten, der aus heutiger Sicht ja zunächst völlig unverständlich wirkt, stark irritiert. Auch einige der Protagonisten der damaligen Debatte machten auf uns erst einmal einen skurrilen Eindruck: Von einer Indianerkommune Nürnberg, konservativen Knabenliebhabern oder sogenannte Power-Pädos hatten die meisten unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuvor auch noch nie etwas gehört. Die besondere Schwierigkeit war es, ein Verständnis zu entwickeln, warum die heute gängige und weithin verbreitete Sichtweise zum Thema Pädosexualität im damaligen zeithistorischen Kontext eben nicht selbstverständlich war. Dies nachzuvollziehen und sich mit den damaligen Positionen, Argumenten und Dokumenten zu beschäftigen, erforderte eine intellektuelle Offenheit als auch eine Haltung der professionellen Nüchternheit, die bei diesem Thema nicht immer einfach durchzuhalten ist.
Wo nun finden sich die historischen Wurzeln Forderung nach einer Legalisierung von Pädophilie?
Franz Walter: Die politische Forderung, pädosexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern zu legalisieren, knüpfte an eine Reihe von Kritiken und Ideen an, die schon ab Mitte der 1960er Jahre eine große Resonanz erlangten und zwar bis ins bürgerliche Lager hinein. Das Strafrecht nahm Abschied von der moralischen Normierung der Sexualität. Das warf zwangsläufig die Frage auf, warum und auf welcher Grundlage Pädosexualität überhaupt bestraft werden sollte. Viele liberale Rechtswissenschaftler suchten nach den Belegen für die allgemeine Schädlichkeit. Die Einschätzungen von Medizinern, Sexualwissenschaftlern oder Kriminologen waren allerdings nicht so eindeutig, wie es heutzutage der Fall wäre. Es wurde sogar mehrheitlich bezweifelt, ja abgestritten, dass Kinder dadurch Schäden erleiden würden. Verbliebene Zweifel und Widersprüche wurden beiseitegeschoben, denn auch große Teile der Wissenschaft waren von den Libertätsschüben der damaligen Zeit stark erfasst.
Im grünen Milieu gibt es die Wahrnehmung, dass es sich bei der ganzen Debatte um Pädophilie und Grüne in erster Linie um infame Wahlkampfpropaganda gehandelt habe.
Stephan Klecha: Die Debatte um Pädosexuaität ist ein Teil der grünen Geschichte und es ist klar, dass die Grünen an dieser Stelle mehr Offenheit gezeigt haben, als ihnen heute recht ist. Zudem, die Debatte ist ja gar nicht neu. Delegierte, die bei den ersten Bundesversammlungen der Grünen dabei gewesen sind, können sich zumeist an die Auftritte der Indianerkommune erinnern. Später, im Jahr 1985, sind die Grünen dann im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen durch einige Beschlüsse zum und im damaligen Wahlprogramm sehr heftig erschüttert worden. Fast alle Darstellungen der Grünen bis Anfang der 1990er Jahre verweisen darauf. Mitte der 1990er Jahre hat die CSU versucht, die Grünen über das Thema in die Enge zu treiben, was der Parteivorstand der Grünen damals mit einem Argumentationspapier entgegnet hat. 2010 hat der Berliner Landesparteitag der Grünen darauf hingewiesen, dass die Grünen beim Thema Pädosexualität einst zu viel Offenheit gezeigt hatten. Kurzum, es waren also die meisten Vorhaltungen längst im Raum. Dass es 2013 eine Verdichtung gegeben hat, lag zum einen an der gestiegenen Sensibilität für das Thema sexueller Missbrauch, seit zu Beginn des laufenden Jahrzehnts zahlreiche Missbrauchsfälle wie in der Odenwaldschule, dem Canisiuskolleg oder im Kloster Ettal bekannt worden sind. Zum anderen hat die Wahlkampfsituation dazu beigetragen, dass insbesondere im Frühjahr 2013 einige engagierte Journalisten nicht locker gelassen haben und die anfänglich abwiegelnde Haltung der Parteiführung der Grünen massiv hinterfragt haben.
Viele der damals Beteiligten, nicht nur bei den Grünen, verweisen auf den damaligen Zeitgeist und betrachten die »alten Geschichten« für abgehakt. Was antworten Sie jenen, die so denken?
Franz Walter: Der Zeitgeist ist nie so eindeutig, sondern auch und gerade im linksalternativen Milieu gab es ja gegenteilige Stimmen. Selbst wenn, gerade die Grünen haben sich ja nie als Partei des Zeitgeists verstanden, sondern waren über lange Zeit geradezu stolz, sich dem in aller Entschiedenheit zu widersetzen. Umso erstaunlicher ist die Ignoranz und mangelnde Souveränität, mit der manche Alt-Grüne reagiert haben, als die Pädophilie-Debatte wieder aufflammte. In gewisser Weise ist es verständlich, dass man sich nicht mit den unangenehmen Aspekten seiner Vergangenheit befassen möchte. Doch die Parteigeschichte der Grünen war ja stets als Geschichte des Erfolgs erzählt worden. Tatsächlich aber gibt es, da sind die Grünen eine stinknormale Partei, eben auch problematische Stellen, die sich weder abhaken noch verdrängen lassen. Ignoranz, auch das hat die Debatte im letzten Jahr deutlich gezeigt, funktioniert selten als Kommunikationsstrategie. Zudem ist eine solche Haltung natürlich wenig sensibel für die Lehren, welche die interessante Geschichte der Grünen ja durchaus bereithält. Wer die Ambivalenzen der damaligen Grünen und auch ihre Lernprozesse und Veränderungen nicht versteht, hat höchstwahrscheinlich ein mangelndes Verständnis für die eigene Parteigeschichte. Diesen Missstand bei den Grünen haben vor über zehn Jahren übrigens bereits die Parteienforscher Joachim Raschke und Richard Stöss beschrieben.
In der öffentlichen Auseinandersetzung über die »Pädophilie-Debatte« der Grünen gingen die Einschätzungen über ihre Bedeutung auseinander. Welche Rolle hat das Thema Pädophilie bei den frühen Grünen ihrer Einschätzung nach gespielt?
Stephan Klecha: Die Grünen waren in erster Linie die Partei von drei Bewegungen, der Friedens-, der Anti-Atom- und der Umweltbewegung. Das war dominant in der politischen Arbeit in den Orts- und Kreisverbänden und fand mannigfach seinen Niederschlag in den Wahlprogrammen. Darüber hinaus assoziierten sich die Grünen mit allen möglichen Gruppierungen, Interessen, Bewegungen oder Anliegen, die an sie herangetragen wurden. Dazu gehörte auch das Pädophiliethema, wenngleich dieses letztlich eine insgesamt randständige Stellung in der Programmarbeit und im Organisationsgefüge der Partei einnahm.
Diskussionen über Pädophilie spielen in der Grünen Partei, die sich erst 1980 gegründet hat, früh eine Rolle. Woher kamen diese Forderungen und wie sind sie ins grüne Programm gelangt?
Franz Walter: Es hat sich schnell gezeigt, dass die Grünen historisch nicht der Urheber der Pädophilie-Debatte sind. Die Wurzeln der bundesdeutschen Debatte über Pädophilie liegen in den 1960er Jahren. Schon im Zuge der damaligen Debatte über eine Reform des Strafrechts finden sich Positionen, welche eine Legalisierung der Pädophilie fordern. Hinzu kamen die Apologeten der sexuellen Befreiung, vor allem im Zuge der Studentenbewegung sowie die damaligen Bewegungen der Anti- und Reformpädagogik. All diese Strömungen haben die Sichtweise auf die Frage nach Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen stark beeinflusst, aber: dies spielte sich weit vor der Gründung der Grünen ab. Es ist daher ebenso unsinnig, dass sich die Grünen als Initiator der sexuellen Revolution inszenieren, wie die Debatte über Pädophilie als genuin grüne Debatte zu bezeichnen. Anfang der 1980er Jahre haben die Grünen verschiedene gesellschaftliche Strömungen und Diskurse aufgenommen, die bis dato parteipolitisch nicht oder kaum repräsentiert waren. Das ist für neue Parteien ganz typisch. Und so gelangte einiges von dem, was schon lange zirkulierte, in die Partei.
Die Grünen sind also nur von einer gesellschaftlichen Debatte erfasst worden, die es vorher schon lange gegeben hat?
Stephan Klecha: Nein, das wäre auch wieder zu einfach. Die Grünen haben die genannten Diskurse, welche damals im liberalen und alternativen Milieu verbreitet waren, mit ihrer Gründung aufgesogen. Das ist insoweit wenig verwunderlich, da ja viele der Gründungsgrünen aus entsprechenden Milieus stammten. Sie kannten Positionen und Diskussionsmuster, waren wenig überrascht, wenn Forderungen artikuliert wurden, die irgendwie abseitig waren, die nicht dem gesellschaftlichen Mainstream entsprachen und die bis dato keine originäre parteipolitische Repräsentanz besaßen. Aufgrund der Organisationskultur boten die Grünen zudem einen besonders fruchtbaren Resonanzboden dafür: Sie sahen sich als Partei für gesellschaftlich diskriminierte und verdrängte Minderheiten und hatten dementsprechend eine offene, oftmals auch unkritische Haltung gegenüber all jenen, die sich als Minderheiten verfolgt oder unterdrückt fühlten beziehungsweise sich unzureichend vertreten fühlten.
Waren die Grünen die einzige Partei, die für die Legalisierung von Pädosexualität eintrat?
Stephan Klecha: Die politische Beschäftigung mit dem Thema hat bereits vor der Gründung der Grünen stattgefunden. Ähnliche Debatten finden sich ab Mitte bis Ende der 1970er Jahre beispielsweise bei den Deutschen Jungdemokraten. Aus ihrer damaligen Jugendorganisation erreichte natürlich einiges dann die FDP, wenngleich es dort nicht programmatisch weiter verfing, im Gegensatz zu den Grünen. Darum wäre es falsch, die Grünen aus der Diskussion über dieses Thema einfach zu entlassen.
Was war denn der Grund für den großen Pressewirbel im Jahr 2013 bis zu den Bundestagswahlen?
Franz Walter: In der Tat war es erstaunlich, wie lange das Thema auf der Tagesordnung blieb. Eben das hatte die Grünen ja so überrascht, sosehr auf dem falschen Fuß erwischt, da sie im Frühjahr des letzten Jahres noch davon ausgingen, dass bald die berühmte »nächste Sau durchs Dorf getrieben« würde. So war und ist ja auch die übliche Erfahrung. Aber diesmal kam es anders. Für viele Rot-Grüne der Kerngeneration war dies alles ein reines Produkt konservativer Wahlkampfstrategien, im Einklang mit politisch affinen Medien. Weil: Die Pädophiliedebatte der Grünen sei doch Schnee von gestern. Die Generation zuvor pflegte zu einer anderen Vergangenheit zu sagen: Irgendwann müsse doch mal Schluss sein. Gerade für Jüngere aber galt das durchaus nicht; und es gilt auch jetzt nicht. Das war schon interessant für uns zu sehen, wie fassungslos Jüngere, auch mit expliziten Grünen-Sympathien, auf die Sexualdebatte der Grünen in den frühen 1980er Jahren reagieren. Sie verstehen einfach nicht, wie man seinerzeit auf so einen Unsinn kommen konnte, dass Kinder und ältere Erwachsene »einvernehmlichen« Sex haben können. Und sie haben vor allem nicht verstanden, warum ihnen von den grünen Aktivisten jener Jahre im Jahr 2013 niemand erklären konnte, erklären wollte, was man sich dabei gedacht hatte. Das Schweigen der Beteiligten, die sich ja stets gerne als Diskursgeneration angesehen haben, das war schon verblüffend. Kaum einer sagt etwas, wenige versuchen zu erläutern. Etliche machten die Schotten dicht, legten bei Telefonaten auf, drohten gar. Ebenso bemerkenswert finde ich, dass ja auch in den frühen 1980er Jahren keine größere Aufregung über dergleichen Debatten herrschte. Auch die Grünen-Gegner von rechts nahmen das kaum wahr. Gingen fast gleichgültig darüber hinweg. Es war eben damals der »Stand der Wissenschaft«, dass man die Folgen des sexuellen Missbrauchs nicht übertreiben dürfte.
In verschiedenen Artikeln im Buch verweisen sie auf die Bedeutung der Frauenbewegung, welche sich massiv gegen die Bestrebungen einer »Emanzipation der Pädophilie« gerichtet hat. Woher kam dieser Widerstand?
Alexander Hensel: Die Frauenbewegung sowie die Antimissbrauchs-Bewegung haben in den 1980er Jahren eine zentrale Rolle für eine Veränderungen der allgemeinen Sichtweise auf Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen gespielt. Sie haben vehement auf die Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern hingewiesen, wodurch sich die Perspektive deutlich gewandelt hat. In diesem Kontext wurden auch die schweren Folgen von sexuellem Missbrauch stärker thematisiert, was dazu beigetragen hat, dass Opfer sexueller Übergriffe ihre Sprachlosigkeit überwanden. Insofern war die Frauenbewegung ein wichtiges Gegengewicht zu einer noch aus den 1970er Jahren stammenden Haltung, welche vor allem die Gewinne und Vorteile der sexuellen Befreiung betonte, deren negativen Folgen jedoch kaum Beachtung schenkten. Damit wurden auch Grenzen und, wenn Sie so wollen, die Schattenseite von Liberalisierungstendenzen offengelegt.
Sie schreiben, dass Alice Schwarzer damals die Forderung nach einer Legalisierung von Pädophilie als Ausdruck männlichen Herrschaftsstrebens gedeutet hat, welches sich seit der beginnenden Emanzipation der Frauen nun zunehmend auf Kinder verlagere. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Alexander Hensel: Dass es Ende der 1970er Jahre überhaupt zur Entstehung einer Pädophilen-Bewegung kam, ist wirklich ungewöhnlich. Darin aber vor allem eine Reaktion auf weibliche Emanzipation zu sehen, halte ich für wenig plausibel. Das Phänomen Pädophilie, also das sexuelle Begehren von Erwachsenen gegenüber Kindern, ist uns aus verschiedensten Epochen bekannt. Selten waren entsprechende Äußerungen jedoch mit politischem Aktivismus verbunden. Dass dies ab Ende der 1970er Jahre anders war, hat mit einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der damaligen Zeit zu tun: Der allgemeinen Emphase für sexuelle Befreiung, dem Aufbegehren verschiedener Minderheiten und auch organisatorischen und ideologischen Anknüpfungspunkten innerhalb der westdeutschen Schwulenbewegung beispielsweise.
Nun liegen die Ergebnisse Ihrer Studie also vor. Welche Lehre, meinen Sie, könnte unsere Gesellschaft daraus ziehen?
Stephan Klecha: Wir haben eine historische Debatte über Pädosexualität untersucht. Ihr Auf- und Abstieg eröffnet einerseits ein Verständnis dafür, wie und warum in früheren Zeiten anders über das Thema gedacht und diskutiert wurde. Dies ist natürlich zentral für die heutige Bewertung damaliger Diskussionen. Unsere Analyse zeigt ebenso, wie und warum sich die Sichtweisen auf Sexualität mit Kindern verändert haben. Die historischen Gründe hierfür zu kennen, ist sicherlich ein Mehrwert für die Debatten, die wir über Pädosexualität als gesellschaftliches Phänomen derzeit und auch in Zukunft führen werden.
Welche Fragen sind bei diesem Thema denn noch offen?
Franz Walter: Einige. Etwa: Wie konnte es zu einem solchen »Stand der Wissenschaft« kommen? Warum haben auch und gerade Publikumsverlage Schriften von Pädophilie-Apologeten verlegt – und ordentlich Gewinne eingestrichen, weil es eben viele zehntausend Leser gab? Warum interessiert es bis heute niemanden, dass große Geister der Wissenschaft und Literatur, nach denen weiterhin Wissenschaftspreise oder ganze Institute benannt sind, bekennende Pädophile waren? Man geht darüber mit lässiger Großzügigkeit -nach dem Motto: Genies sind eben anders – hinweg. Warum ignorierte ein großer Teil des Linksliberalen Bürgertums lange die Ambivalenz von »befreiter« Sexualität? Ganz wichtig die Frage: Missbrauch finden wir in der Familie, in Schulen, in der Kirche, bei Pfandfindern, in der alternativen Subkultur etc. Das sind ganz unterschiedlich motivierte und strukturierte Sphären. Gibt es trotzdem eine Verbindung? Und welcher Typus von Institution wird mit dem Problem eher fertig.
Letzte Frage: Würden Sie ein derartiges Forschungsprojekt noch einmal wagen?
Franz Walter: Ja. Schon. Zugegeben: Das Thema ist denkbar schwierig. Auch bedrückend. Und eine Zeitlang war der Druck der Öffentlichkeit hoch und auch für uns regelrecht riskant. Routine hatten wir diesmal nicht. Gerade darin aber liegt es wohl begründet, dass ich selten eine Forschergruppe wie diese so intensiv und eindringlich habe arbeiten und diskutieren sehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Ulrike Schermuly von Vandenhoeck & Ruprecht.
Prof. Dr. Franz Walter leitet das Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dr. Stephan Klecha und Alexander Hensel arbeiten dort als wissenschaftliche Mitarbeiter. Sie sind Herausgeber des Bandes „Die Grünen und die Pädosexualität- Eine bundesdeutsche Geschichte“, welches am 13.11.2014 bei Vandenhoeck & Ruprecht erscheint.