Neue Studie: Wähler und Nichtwähler

Beitrag verfasst von: Redaktion

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[präsentiert]: M. Blaeser, F. Butzlaff, M. Micus, R. Pausch und G. Scalabrino mit Studienergebnissen zu Politikeinstellungen und Politikhoffnungen in Göttinger Stadtvierteln

Nichtwähler und zunehmende Wahlverweigerung in Deutschland sind in den letzten Jahren immer deutlicher ins Zentrum des politikwissenschaftlichen Interesses gerückt. Nachdem der Anstieg von Nichtwählern zunächst durchaus positiv konnotiert und als Anzeichen dafür interpretiert worden war, dass sich die großen, polarisierenden Konflikte in unseren Gesellschaften abgeschwächt hätten, haben viele der jüngeren soziologischen Untersuchungen den Zusammenhang zwischen Rückgang der Wahlbeteiligung und gesellschaftlichem Ausschluss bzw. Prekarisierung eindrücklich herausgearbeitet.[1] Verantwortlich für die sinkende Wahlbeteiligung sind aus dieser Perspektive die Erfahrung von gesellschaftlicher Ausgrenzung, Unsicherheit sowie enttäuschte Aufstiegshoffnungen. Eine neue Studie, die das Göttinger Institut für Demokratieforschung gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung im Laufe des Jahres 2015 durchgeführt hat, vertieft und illustriert diese Erklärungsansätze.[2] 

Die Studie orientiert sich an einer wichtigen Beschränkung vieler quantitativer Erhebungen zu Nichtwählern:  Zwar lässt sich feststellen, in welchen Stimmbezirken besonders wenige Menschen zur Wahl gehen, auch, durch welche sozialstrukturellen Merkmale diese Bezirke gekennzeichnet sind – durch unterdurchschnittliche Einkommen, relativ niedrigen Bildungsstand, vergleichsweise hohen Migranten- und Transferempfängeranteil und die Wahrnehmung einer geringen Qualität des eigenen Wohnumfeldes. Gleichwohl gibt diese Vorgehensweise keinen Aufschluss darüber, wer genau in diesen Stadtvierteln nicht mehr zur Wahl geht und aus welchen Gründen. Welche (Rest-)Hoffnungen hegen diese Menschen noch gegenüber der Politik? Und nicht zuletzt: Welche Personen gehen in diesen Stadtvierteln eigentlich noch zur Wahl und was unterscheidet sie von den Nichtwählern?

Um diese Fragen beantworten zu können, haben wir einen anderen, einen qualitativ und explorativ fragenden Zugang gewählt. In drei Stadtvierteln Göttingens ­– Holtenser Berg, Leineberg und Grone-Süd –, die viele der oben genannten Charakteristika aufweisen, haben wir mittels Fokusgruppen untersucht, wie Menschen auf Politik und ihre eigene Rolle darin blicken. Besonders auffällig war, dass gesellschaftlich-soziale Trennlinien diese drei Viertel nicht nur vom Rest der Stadt scheiden, sondern auch innerhalb der jeweiligen Quartiere zahlreiche Spaltungen – sozial, kulturell, ethnisch, aber auch zwischen Wählern und Nichtwählern – existieren, die sich in unterschiedlichen Einstellungen, Hoffnungen und Sorgen artikulieren. Ein zentrales Thema in allen sechs Gruppendiskussionen war die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation innerhalb des Stadtviertels. Überaus eindrücklich wurde beschrieben, wie ungerechtfertigt das als kränkend empfundene Negativimage des jeweiligen Stadtteiles sei. In allen drei Vierteln setzten die Gesprächsteilnehmer zu langen Rechtsfertigungserzählungen an. Sie berichteten von der ausgebauten Infrastruktur, der guten Busanbindung, den Grünanlagen sowie der freundlichen Nachbarschaft. Ihr Viertel schilderten sie im positiven Sinne als Schicksalsgemeinschaft, in der man sich gegenseitig helfe und vertraue. Je länger die Gespräche jedoch dauerten, desto kritischer wurden die Urteile über das eigene Stadtviertel. Zunehmend wurde von sozialen Verwerfungen, einem fehlenden Zusammenhalt, Drogenhandel und Vandalismus berichtet und die positiven Urteile zu Beginn der Diskussionen teilweise revidiert.

Eine markante Differenz stellten wir im Rahmen unserer Fokusgruppengespräche auch in verschiedenen Problembewertungen der Wähler und Nichtwähler fest. Während die Wähler etwa auf die gefühlte Sicherheitseinschränkung mit selbstbewusster Souveränität und Distanz reagierten, fühlten sich Wahlabstinente sehr viel stärker persönlich bedroht. Sie beschrieben die Schwierigkeiten des eigenen Viertels als wesentlich unmittelbarer, drängender, ja bisweilen als unlösbar, während diejenigen, die zur Wahl gehen, die Überzeugung artikulierten, trotz der latenten Bedrohung weiterhin „alles im Griff“ zu haben. Ähnliche Tendenzen lassen sich mit Blick auf die Aussagen zum zivilgesellschaftlichen Engagement konstatieren: Nichtwähler beklagten einen Mangel an Engagementmöglichkeiten, zudem könnten sie auch im Falle von Beteiligungsbereitschaft und tatsächlicher Partizipation nichts verändern, weil diejenigen, die „das Sagen haben“, ohnehin machten, was sie wollten. Die Wähler hingegen wussten über die vorhandenen Beteiligungsangebote und -möglichkeiten Bescheid, äußerten sich positiver über die soziale Infrastruktur der Stadtteile und gaben an, die Angebote selbst regelmäßig zu nutzen. Dass sich allgemein wenig engagiert werde, beklagten auch sie, sogar vehement, nur richtete sich diese Kritik vorwiegend gegen „die anderen“, die Passiven und Inaktiven. Grundsätzlich blickten die Wähler, auch dieser Befund war in den Gruppendiskussionen eindrücklich, selbstbewusst und gelassen auf die eigene Lebensperspektive, die sie – obschon sie die Stigmatisierung ihres Viertels problematisch fanden – nicht als gefährdet erachteten.

Der Unterschied zwischen selbstbewussten und handlungssicheren Wählern sowie deutlich unsicheren Nichtwählern schlug sich in den Gesprächsrunden ebenfalls auf die Einstellungen und Hoffnungen in Bezug auf die Politik nieder. Wähler nahmen Zuständigkeiten und Handlungsoptionen der Politik  wahr und machten sie für die eigenen Anliegen nutzbar. Sie schreckten etwa nicht davor zurück, bei lokalen Problemen Briefe oder Emails an den Oberbürgermeister zu schreiben, Sitzungen des Gemeinderates zu besuchen oder den örtlichen Stadtverordneten direkt anzusprechen. Dieses Selbstbewusstsein war bei den Nichtwählern deutlich schwächer ausgeprägt. In den Gesprächen hielten sie sich bei diesem Thema auffallend zurück, offenbarten gravierende Wissenslücken und sprachen mit großem Misstrauen über „die Politik“.

Während die Wähler der Politik manifeste Steuerungskompetenzen zuschrieben und von eigenen Erfahrungen berichteten, anhand derer sie gemerkt hätten, dass Politik und politisches Engagement durchaus etwas verändern könnten, fehlte diese positive Perspektive den Nichtwählern zu weiten Teilen. In deren Alltagswelt und sozialem Nahbereich spielte Politik kaum eine Rolle, wurde als abgehoben und entfremdet wahrgenommen. Gerade die lokale Ebene der Politik war ihnen kaum präsent und wurde von ihnen auch nicht beachtet. Während die Wähler das Gefühl äußerten, dass hier, vor Ort, Politik „noch ansprechbar“ sei und „wirklich etwas bewirken“ könne, wussten Nichtwähler weder über die Partizipationsmöglichkeiten eingehend Bescheid, noch empfanden sie in den Gesprächen Lokalpolitik als grundsätzlich nahbarer. Zeitgleich wurde deutlich, dass Lokalpolitik und die lokale Präsenz von Demokratie und deren Repräsentanten die Grundlage der Anerkennung positiver politischer Gestaltungsfähigkeit sind. Die Verbindung gezielten Handelns mit konkreten Ergebnissen gelingt hier, auf lokaler Ebene, plausibler, besitzt aber gerade dadurch auch das Potenzial für größere Enttäuschungen. Umso wichtiger wäre es beispielsweise, auf die verstärkte Einbindung von Menschen aus den Vierteln mit niedriger Wahlbeteiligung in die lokale Politik zu setzen.

Dass Politik  positive Veränderungen für die eigene Lebenswirklichkeit initiieren könne, glaubten die meisten Wahlabstinenten nicht. Dass sie selbst Objekt und Adressat politischen Handelns sein könnten, schien für einen großen Teil der Nichtwähler eine kaum nachvollziehbare Vorstellung. Vielmehr dominierte das Bild des unehrlichen, narzisstischen Politikers, der, da lediglich auf sein Eigenwohl bedacht, den Sorgen und Nöten der „kleinen Leute“ gegenüber gleichgültig sei und sich lediglich zu Wahlkampfzeiten im Viertel blicken lasse. Dabei gilt einschränkend: Dieses klischeehafte Negativbild war in den Gesprächen grundsätzlich sowohl bei Nichtwählern als auch bei Wählern zu erkennen. Positive oder auch nur relativierende Gegendarstellungen wurden allenfalls in Halbsätzen artikuliert. Auch dass „die Politik“ generell insgesamt etwas weit Entferntes, Abstraktes, Viertelexternes sei, verband Wähler und Nichtwähler eher, als dass es sie trennte. Lediglich der Anspruch vieler Lokalpolitiker, direkt kontaktier- und ansprechbar zu sein – gleichwohl viel und oft betont wurde, dass diese dem Anspruch in den seltensten Fällen genügten –, hob die lokale Politikebene hier etwas ab.

Auffällig war weiterhin, wie wenig die in den Vierteln bereits realisierten Möglichkeiten zum Engagement, zu Viertelgesprächen, -dialogen und -runden an der Tatsache ändern konnten, dass es jeweils nur eine bestimmte Gruppe war, welcher die Partizipationsangebote eine nachgerade selbstverständliche Gelegenheit boten, sich einzubringen. Dass den Nichtwählern in der Tendenz die Möglichkeiten zum Engagement und zur Beteiligung viel weniger bekannt waren und sie diese auch für ein eigenes Engagement viel weniger in Betracht zogen, macht eben auch deutlich, wie wenig intensivierte Partizipationsangebote allein an dieser Spaltung innerhalb der Gesamtgesellschaft und innerhalb der Teilgesellschaften der Stadtviertel verändern können. Im Gegenzug können sie gar eine Spaltung innerhalb des Viertels noch vertiefen. Politisches, gar parteipolitisches Engagement per se galt (und gilt) vielen als kompromittierend. Umso wichtiger erscheint eine vorsichtige, jedenfalls zunächst unpolitische Ansprache, um Menschen zuerst zu Engagement zu bewegen und ihnen in der Folge zu vermitteln, selbst etwas bewirken zu können. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte „Kümmererstrategien“, mit denen über langfristig angelegte, konkrete Hilfs- und Beratungsangebote Vertrauen in die Motive der Politik und später in die Partizipationsmöglichkeiten aufgebaut werden kann. Selbstwirksamkeit ist eine Erfahrung, die Wähler in viel größerem Umfang für sich reklamieren als Nichtwähler. Sie scheint folglich ein lohnender Ansatzpunkt, um zukünftig die Wahlbeteiligung im Speziellen und politisches Engagement im Allgemeinen zu heben.

Maximilian Blaeser, Dr. Felix Butzlaff, Dr. Matthias Micus, Robert Pausch und Giannina Scalabrino arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Studie „Wahl und Nichtwahl“ steht hier zum Download bereit.

 
[1] Vgl. etwa: Schäfer, Armin: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a.M. 2015 sowie: Nase, Henning: Deutschland wählt. Analysen und Prognosen zur Bundestagswahl, Berlin 2013
[2] Blaeser, Maximilian et al: Wahl und Nichtwahl. Politikeinstellungen und Politik-Hoffnung in Göttinger Stadtvierteln, in: Forum Berlin. Friedrich Ebert Stiftung: Empirische Sozialforschung, H. 5. Bonn 2016, online verfügbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/dialog/12567.pdf [30.5.2016]