[analysiert]: Britta Baumgarten über die Auslöser und Gründe der Protestwelle in Brasilien.
Diesen Sommer erlebte Brasilien völlig überraschend Massendemonstrationen, die sich schnell auf das gesamte Land ausbreiteten und nicht nur Protestforscher vor viele Rätsel stellen. So handelt es sich doch bei Brasilien um ein Land, das seit 2003 von der Arbeiterpartei (PT) regiert wird. Die Partei steht vielen sozialen Bewegungen nahe und hat seitdem sowohl eine Öffnung des Staates hin zur Zivilgesellschaft als auch viele soziale Verbesserungen vorangetrieben. Begleitet wurde dies von einem beachtlichen Wirtschaftswachstum. Zuletzt sah man landesweite Proteste gleichen Ausmaßes vor über zwanzig Jahren, die sich damals, 1992, gegen den damaligen Präsidenten Fernando Collor richteten. Warum also gerade jetzt?
Während meines Feldforschungsaufenthaltes führte ich zwischen April und Juli 2013 Interviews mit Aktivisten verschiedener sozialer Bewegungen, mit Sozialforschern und Regierungsmitarbeitern. Ich hatte die Gelegenheit, Demonstrationen und öffentliche Versammlungen der Demonstrierenden in Belém, Brasília und Porto Alegre zu beobachten. Das eigentliche Ziel meines Forschungsprojektes war es, die Veränderungen für diejenigen sozialen Akteure zu erfassen, die sich für die Rechte von Armen und Ausgegrenzten einsetzen. Eine einmalige Chance, die Proteste aus dieser Perspektive zu betrachten.
Auch für die von mir interviewten Aktivisten kamen die Proteste unerwartet. Noch bis Ende Mai hörte ich nicht selten die Klage, die sozialen Bewegungen seien im letzten Jahrzehnt stark geschwächt und teilweise orientierungslos, weil ihnen durch die PT-Regierung – im Gegensatz zu früher – ein wirklicher Gegner auf staatlicher Seite fehlte. Viele ehemalige Aktivisten aus den traditionellen sozialen Bewegungen des Landes haben zudem heute ihren Platz in der institutionellen Politik gefunden oder arbeiten in Projekten, die nicht selten von staatlicher Seite gefördert werden.
Kritik an der Regierung wurde von fast allen Interviewpartnern geäußert, diese aber teilweise stark relativiert. Die hohen Erwartungen von 2003 sind vielfach enttäuscht worden, und dies nicht nur weil die Arbeiterpartei seit Beginn ein breites Koalitionsbündnis mit zum Teil konservativen Parteien eingehen musste. Vielerorts hat sich die Situation der Armen nicht verbessert oder sogar verschlechtert. Partizipationsinstrumente wie der Bürgerhaushalt haben vielerorts an Einfluss verloren oder wurden aufgegeben. Sie scheitern oftmals an fehlender Unterstützung lokaler Politiker. Nicht immer trifft die Bundesregierung die Schuld an Missständen, denn viele wichtige Entscheidungen werden auch in Brasilien auf Landesebene oder in der Stadtverwaltung getroffen. So etwa die Polizeieinsätze in den Favelas von Rio de Janeiro, die das Alltagsleben der dortigen Bewohner stark beeinträchtigen – bis hin zur berechtigten Angst um das eigene Leben. Bei aller Kritik wird ein Sturz der Regierung von vielen als Gefahr betrachtet. Bezeichnend für die Einschätzung der Mehrheit der Interviewten ist die Aussage eines Gesprächspartners in Rio de Janeiro im April, man habe mit der Arbeiterpartei zwar keine gute Regierung, es sei aber mit Abstand die beste, die man je hatte. So waren diese Akteure bei den Protesten auch teilweise sehr zurückhaltend. Sie wurden mancherorts gar für ihre Regierungsnähe kritisiert.
Wer aber stellt den Großteil der Demonstrierenden, die gegen diese Missstände öffentlich protestieren? Diese Frage bleibt weitgehend unbeantwortet, denn es gibt bisher keine seriöse Studie über die Zusammensetzung der Demonstrierenden. Die von den Medien in Auftrag gegebenen Umfragen sollten mit Vorsicht interpretiert werden, denn die konservativen Medien gelten, laut verschiedener brasilianischer Interviewpartner, seither als „mächtigster Gegenspieler der Arbeiterpartei“ und sind damit weit davon entfernt, neutral zu berichten.
Eine Betrachtung der Hauptforderungen der Demonstrierenden ist aufschlussreicher. So richteten sich die ersten Proteste zwar gegen Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Diese Tariferhöhungen können aber, gemeinsam mit dem damals bevorstehenden FIFA-Confederations-Cup und den damit verbundenen Investitionen, Umsiedlungen und Ausgrenzungen, nur als Auslöser der Proteste und günstige Rahmenbedingung für das große Ausmaß betrachtet werden. Die Forderungen der Demonstrierenden reichten weit über den öffentlichen Nahverkehr hinaus. Zu den Hauptforderungen gehörten etwa auch Verbesserungen im Bildungs- und im Gesundheitssystem. Eng verbunden hiermit ist die Frustration über zahllose Fälle von Korruption, die auch dazu führen, dass Investitionen in Infrastruktur- und Sozialprojekte nicht dort ankommen, wo sie eigentlich gebraucht werden. Die Forderungen waren divers und variierten zudem regional. In Belém beispielsweise richteten viele Demonstrierende ihre Kritik gegen das im Amazonas angelegte Großprojekt Belo Monte. Vielfach richtete sich die Empörung gegen konkrete Politiker auf lokaler oder Landesebene. Einige Gruppen, wie etwa Mediziner, nutzten zudem die allgemeine Stimmung im Lande, um für ihre Anliegen zu demonstrieren. So entstand ein Sammelsurium verschiedener Forderungen, deren Zusammenhang auf den ersten Blick nicht unbedingt ersichtlich war.
Weniger diffus waren die Forderungen, die in den Versammlungen der Demonstrierenden diskutiert wurden. Diese Positionen stimmen sicherlich nur zum Teil mit den in den Protesten geäußerten Positionen aller Demonstrierenden überein. Trotzdem helfen dort ausgetragene Debatten um die Hauptziele weiter. Hier, wie auch in meinen Interviews, wird eine grundsätzliche Kritik am vorherrschenden, auf Konsum ausgerichteten Wirtschaftssystem und an den bestehenden sozialen Ungleichheiten des Landes deutlich. In diesem Rahmen betrachtet geht es bei den Forderungen um weitaus mehr als um Fahrpreise, es geht aus Sicht der Organisatoren um den Angriff auf ein System: ein System, in dem sich privatisierte Unternehmen mit staatlicher Unterstützung auf Kosten der Bevölkerung und der Umwelt bereichern. Die Parallelen zum maroden Gesundheitssystem liegen auf der Hand. So sind die konkreten Forderungen teilweise auch wesentlich radikaler, als die Regierung zu Zugeständnissen fähig ist. In Porto Alegre beispielsweise, einer Stadt, in der der öffentliche Nahverkehr vergleichsweise gut funktioniert, besetzten Demonstrierende eine Woche lang das Rathaus. Die zuvor angekündigte Fahrpreisreduzierung war den im ”Bloco de Luta“ organisierten Demonstrierenden vor allem deshalb nicht ausreichend, weil diese auf Kosten der Steuerzahler und nicht der Betreiber ging und das bestehende System nicht in Frage stellte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Protestierenden aus verschiedensten Motivationen heraus auf die Straße gingen. Diese stehen jedoch in einem breiten Zusammenhang: Es herrscht Unzufriedenheit über den Umgang des Staates mit öffentlichen Geldern auf Kosten der Mittelschichten und der Armen, vor allem in den Großstädten.
Interessant ist der Umgang der Regierung mit den Forderungen der Demonstrierenden. Im Gegensatz zu den meisten aktuellen Staatsoberhäuptern Europas versucht Dilma Rousseff den Protestlern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie auf Forderungen mit Reformprojekten und neuen Angoboten zum Dialog mit der Zivilgesellschaft reagiert hat. Noch nie haben die Regierenden so viele Projekte im Sinne der Demonstrierenden beschlossen wie in der Woche nach den ersten großen Demonstrationen. Die für Partizipation und Dialog mit der Zivilgesellschaft zuständigen Abteilungen im Präsidialamt arbeiteten ebenfalls auf Hochtouren: Es fanden bereits zahlreiche Gespräche der Präsidentin mit sozialen Bewegungen statt, die vor den Protesten für ihre im Vergleich zu ihrem Vorgänger Lula geringere Kommunikationsbereitschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteuren kritisiert wurde. Außerdem ist eine Internetplattform in Planung, die es Einzelpersonen ermöglichen soll, ihre Forderungen und Ideen mit der Regierung besser zu kommunizieren. Ob diese Maßnahmen helfen, erneute Massenproteste im nächsten Jahr zu verhindern, wenn neben der Fußball-WM, für die noch viele Baumaßnahmen geplant sind, auch Präsidentschaftswahlen anstehen, bleibt allerdings offen.
Dr. Britta Baumgarten arbeitet seit Juli 2011 als Postdoc am CIES in Lissabon zu Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen. Von ihr erschienen 2010 “Interessenvertretung aus dem Abseits. Erwerbsloseninitiativen im Diskurs über Arbeitslosigkeit” und “Das Ende des sozialen Friedens. Politik und Protest in Zeiten der Hartz-Reformen” (zusammen mit Christian Lahusen).