[Göttinger Köpfe]: Jöran Klatt über den Soziologen Maurice Halbwachs
Er galt als unscheinbarer Typ. Doch Maurice Halbwachs war prägend für die Entwicklung moderner Theorien der Kultur- und Geisteswissenschaften. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren seine Forschungsarbeiten von nicht zu unterschätzender wissenschaftlicher Relevanz. Trotzdem steht und stand er im Schatten seiner Vorläufer. Halbwachs war Schüler von Émile Durkheim und Henri Bergson, in seinem Denken wurde er somit in einer Zeit stark geprägt, als die Wissenschaften vom Menschen – zumindest in ihrer modernen Form – erste Gehversuche unternahmen.
Damals hatten Debatten über die allgemeine Beschaffenheit sozialer Gefüge Hochkonjunktur: In solchen Diskursen versuchte Halbwachs meist zu vermitteln und reflektierte seine Arbeit stets im Hinblick auf das Werk und Wirken anderer. Somit vermochte er zwischen den Extrempolen seiner beiden Lehrmeister Durkheim und Bergson zu oszillieren. In hitzigen Debatten präsentierte er Kompromissvorschläge statt sich einander ausschließenden Absolutheiten. Wahrscheinlich war es diese Charaktereigenschaft Maurice Halbwachs, die verhinderte, dass sein Werk und seine Art zu denken in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft übergingen. Seiner Bedeutung jedoch tut dies keinen Abriss.
Halbwachs wurde am 11. März 1877 als Sohn eines katholischen Deutschlehrers im elsässischen Reims geboren. Die Schullaufbahn beendete er auf einem Gymnasium in Paris, nachdem die Familie dorthin umgezogen war. Er studierte zunächst Philosophie in Paris und wurde im linken Milieu politisch sozialisiert: Halbwachs war Reformsozialist. 1902 kam er nach Göttingen. Hier lebte Halbwachs ein Jahr in der Theaterstraße 18 und arbeitete als Französischlektor am Seminar für Romanische Philologie. Göttingen war für Halbwachs der Beginn seiner universitären Karriere. Hier verdiente er sein erstes Geld im universitären Betrieb und begann sein intensives Studium der Schriften Gottfried Leibniz, die Halbwachs dann auch in Göttingen veröffentlichte. Und zurück in Frankreich war er es, der für die dort bald steigende Bekanntheit Max Webers sorgte, somit einen genuinen Beitrag zum wissenschaftlich-kulturellen Transfer leistete.
Man kann Halbwachs durchaus als „Kind seiner Zeit, genauer seines wissenschaftlichen und intellektuellen Milieus“ (Dietmar Wetzel) bezeichnen. In den zeitgenössischen soziologischen Werken, von denen nicht wenige bis zum heutigen Tage als Klassiker gelten, verbinden sich auf einzigartige Weise Gedanken, die Theorie und Praxis miteinander verbinden – eine Vorgehensweise, die den heutigen soziologischen Arbeiten oft fremd ist. So auch bei Halbwachs: Dieser fand seine Anhaltspunkte einerseits in Durkheims Objektivismus, der einen Großteil seiner Schwerpunkte auf die Justierung wissenschaftlicher Kriterien, also der objektivierenden Methoden legte; andererseits auch im Subjektivismus Bergsons, der Halbwachs an einer entmenschlichten und aperspektivischen Wissenschaft zweifeln ließ. Die wissenschaftliche Prägung ließ ihn nie ganz los und so ist auch seine Sicht auf die Gesellschaft ein Versuch, eine Art Metaperspektive zu erlangen. Dies wird besonders dann deutlich, wenn Halbwachs versucht, das Handwerkzeug der harten soziologischen Methoden einzusetzen, um ein allgemeingültiges Bild der gesamten Gesellschaft zu zeichnen. Und doch war sich Halbwachs einer Tatsache ganz besonders bewusst: Jeder betrachtet die Welt aus einer anderen Perspektive heraus und diese Sicht wiederum ist von der Welt geprägt, in der wir leben.
So steht es bei Halbwachs auch mit jenem Objekt, mit dem ihn die Nachwelt wohl am häufigsten verbindet: das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Erinnern und Gedenken sind für ihn nicht das Zurückgreifen auf etwas Feststehendes, sondern das Neuerfinden und Konstruieren auf Basis des Erlebten. Erinnerungen sind keine statischen Gebilde, die, wie in einem Speicher abgelegt, jederzeit wieder herausgeholt werden können, sondern sie werden geschaffen („konstruiert“) und mit jedem Male, die wir sie heraufbeschwören, neu geformt. Diese Grundannahme führte dazu, dass Halbwachs‘ Studien über das Gedächtnis und die Erinnerung, die sich im allgemeinen Verständnis mit der Annäherung an die Vergangenheit befassen sollte, ihn mehr über die gegenwärtige Beschaffenheit der Gesellschaft herausfinden ließen. Sein Biograph Dietmar Wetzel beschreibt dies exemplarisch: „Für Halbwachs ist der Ausgangspunkt der Erinnerung die Gegenwart. Ihm zufolge gehen wir dabei von einem System der allgemeinen, uns stets verfügbaren Ideen aus. Diese können sich beispielsweise in der von der Gesellschaft geformten Sprache manifestieren. Anders gesagt: Wir gehen von allen Ausdrucksmitteln aus, die uns die Gesellschaft zur Verfügung stellt, und dann kombinieren wir diese, um entweder ein bestimmtes Detail oder eine Nuance vergangener Gesichter oder Ereignisse und allgemein unserer früheren Bewusstseinszustände wiederzufinden.“
Halbwachs beschäftigte sich also vorwiegend mit Dingen, die unser Erleben, unsere Wahrnehmung prägen. Dabei stieß er auf die elementare Rolle der sozialen Bezugssysteme in Form von Menschen, mit denen wir unsere Lebenswelten teilen. Das, was Halbwachs zunächst noch in marxistischer oder weberianischer Tradition „Klassen“ nannte, formte er schließlich in den weniger ideologisch konnotierten Terminus des sozialen Bezugsrahmens (cadres sociaux) um. Dabei gelingt ihm nicht weniger, als die quantitative Ebene mit der qualitativen zu ergänzen: Seine sozialen Bezugsrahmen sind im Grund schon das, was heute als Milieus erforscht wird. In ihnen entstehen nicht nur die materiellen Grundlagen, nicht nur die Metastrukturen der sozialen Existenz, sondern sie sind die sinnbildliche Darstellung des Raumes, in dem sich ein Individuum bewegt und der wiederum durch viele Individuen konstruiert wird.
Halbwachs hatte ein Gespür dafür, dass Sozialisation nicht nur den habituellen und kulturellen Teil des menschlichen Individuums kreiert, sondern auch weiter die Grundlage dafür bildet, wie ein Subjekt seine Umwelt wahrnimmt. Nichtsdestotrotz: Halbwachs Bewusstsein für die Individualität des Wahrnehmens und des Erinnerns hielten den Soziologen nicht davon ab, Theoreme zu entwerfen, die einen weiteren Blick auf die Gesellschaft ermöglichen. Mit dem Terminus des kollektiven Gedächtnisses, der wohl bis heute bekanntesten Wortschöpfung Halbwachs, entwickelte er ein Konzept, das nicht nur die individuelle Beschaffenheit menschlicher Erinnerungen erfassen sollte, sondern auch jenes einer cadres sociaux umfasste. Um noch einmal Wetzel zu Wort kommen zu lassen: „Kollektive Gedächtnisse garantieren ihren Trägern den Zusammenhalt in der Gegenwart und sichern zudem eine Kontinuität, die in die Zukunft verweist. Weil kollektive Gedächtnisse konstitutiv für soziale Gemeinschaften (Familie, religiöse Gruppen, soziale Klassen) sind, setzen sie allfälligen sozialen Unbeständigkeiten eine Form der Dauerhaftigkeit entgegen.“
Dadurch, dass eine bis zu einem gewissen Grade kulturell homogene Gruppe über ein kollektives Gedächtnis verfügt, entsteht sie erst als zusammenhängende Formation. Anders herum ist es jedoch auch diese Gruppe, die das kollektive Gedächtnis – ebenso wie das Individuum – erst hervorbringt und konstruiert. Ohne kollektives Gedächtnis keine soziale Gruppe, und ohne soziale Gruppe kein kollektives Gedächtnis. Die Überlegungen Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis finden später breite Zustimmung und vor allem auch Erweiterung in den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann.
Sein Werk blieb jedoch nicht nur theoretischer Natur. Im Gegenteil: Für so manchen gilt Halbwachs als der erste empirisch arbeitende Soziologe. So verband er seine Überlegungen über die grundsätzliche Beschaffenheit des Gedächtnisses und der sozialen Bezüge, auf die dieses zurückgriff, stets mit zum Teil aufwändigen soziologischen Beobachtungen. Halbwachs entdeckte so in diversen Studien die relative Abhängigkeit von grundsätzlichen Wahrnehmungsgrößen, wie etwa jene von Zeit und Raum, bereits etliche Jahre vor dem Siegeszug des Konstruktivismus.
Wo quantitative und qualitative Wissenschaft aufeinandertreffen, fand sich Maurice Halbwachs, auch wenn er der deduktiven Prägung der harten Schule seines großen Meisters Emile Durkheim nicht entgehen konnte und wollte. Halbwachs war im Zweifelsfall auf der Seite der ‚harten Wissenschaft‘, der erhebenden und erfassenden, ja der berechnenden Methoden. Doch dabei vergaß er nie, dass auch und vor allem die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen ist.
Seit 2003 erinnert eine Gedenktafel an einem Haus in der Theaterstraße 18 an Maurice Halbwachs kurzes Wirken in Göttingen. Die Tafel soll jedoch nicht nur an das Schaffen des Soziologen erinnern, sondern ist zugleich ein Mahnmal. Denn Halbwachs erlag noch am 16. März 1945 im KZ Buchenwald der Folter der Zwangsarbeit der Nazis.
Jöran Klatt ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.