[debattiert]: Erfolgsorientierte Parteiprognosen – ein Gedankenspiel.
So viel Spannung enthält der ansonsten langweilige Wahlkampf dann doch: Bis zum tatsächlichen Urnengang bleibt der Wahlausgang ungewiss. Auf dreißig Prozent aller Wahlberechtigten taxierte beispielsweise das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Mai 2013 den Anteil der Unentschlossenen und Nichtwähler.[1] Dieser Wert indiziert zugleich, dass der Wahlausgang nurmehr schwer vorhersagbar ist. Ohnehin sind Prognosen ein risikobehaftetes Metier. Doch ließen sich zu Zeiten, da die Wählerbindungen breiter Bevölkerungsgruppen an die jeweiligen Parteien noch fest und die politischen Meinungsbildungsprozesse überwiegend bereits lange im Vorfeld von Wahlen abgeschlossen waren, Schätzungen über die erwartbaren elektoralen Rangfolgen und Mehrheitsverhältnisse noch einigermaßen gut begründen. Heute liegen die seriösen Umfrageinstitute mit ihren Vorhersagen allerdings immer häufiger daneben, sind Wahlausgänge selbst für die politischen Profis bis zum Schluss immer unsicherer.
Denn inzwischen haben sich die Wählerbindungen merklich gelockert. Während 1990 noch sechzig Prozent der Wähler ihre Stimme stets derselben Partei gaben, also Stammwähler waren, trifft diese Diagnose aktuell nur noch auf 38 Prozent zu. Der Anteil der Wechselwähler dagegen ist zeitgleich von 25 auf vierzig Prozent gestiegen. Rechnet man die gestiegenen Werte für Protest- und Taktikwähler hinzu und berücksichtigt zudem das Wachstum bei der Gruppe der Nichtwähler, dann gewinnt man einen Eindruck von dem Ausmaß an Bewegung, welche die Wählerschaft in der jüngsten Vergangenheit regelrecht durcheinandergewirbelt hat.[2]
Andererseits basieren Erfolge oder Misserfolge von Parteien an der Wahlurne auch in der Gegenwart noch nicht auf reinen Zufällen, spielen sich Sieg und Niederlage nicht im luftleeren Raum ab. Vielmehr zeigen sich etwa dem regelmäßigen gründlichen Leser der umfangreichen und fortlaufenden empirischen Erhebungen bereits im Vorfeld politischer Abstimmungen eine ganze Reihe sich ergänzender, teilweise auch gegenläufiger Entwicklungen, die weit differenziertere Schlussfolgerungen ermöglichen als jene, die sich in der schlichten Feststellung von Gewinn und Verlust erschöpfen.
Es ist nicht zuletzt die Unübersichtlichkeit zeitgenössischer Wandlungsprozesse, die – wenn man so will – Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die das kurios anmutende Phänomen begründet, dass am Wahlabend nicht selten die Spitzenpolitiker gleich mehrerer Parteien den Wahlsieg für ihre Farben reklamieren. Das ist sicher auch, doch nicht allein dem politischen Konkurrenzkampf und dem Bestreben geschuldet, selbst unmittelbar nach der Wahl die Deutungshoheit zu behalten und den Gegner zu attackieren. In der Tat lassen sich aber auch in der Niederlage Indikatoren feststellen, die eine rosigere Zukunft versprechen und noch im Moment des Scheiterns den zukünftigen Wiederaufstieg erahnen lassen – und die sich deshalb als Erfolg interpretieren lassen.
Dergleichen Beobachtungen standen Pate bei der Planung der folgenden Parteiprognosen, die im Vorgriff auf den Wahltag begründete Überlegungen darüber anstellen sollten, warum jede einzelne der behandelten Parteien ihre Wahlziele letzten Endes erreicht hat, eben »erfolgreich« war. Neben der üblichen Sekundärliteratur über Geschichte und Gegenwart, Sozialstruktur und programmatische Ausrichtung von CDU, SPD, Grünen, FDP und Linkspartei, basieren die vorliegenden Parteidarstellungen auf den zum Zeitpunkt der Niederschrift im Mai verfügbaren Deutschlandtrends von Infratestdimap aus dem Jahr 2013. Diese Quelle haben wir gewählt, weil sie durch ihr Fragenspektrum exemplarisch die Bandbreite an Hoffnungszeichen und Kraftquellen erfasst, die in den Detailergebnissen stecken und die auch jene Parteien zuversichtlich stimmen können, welche auf der Ebene der Umfragegesamtwerte eher schlecht dastehen.
Zudem und nicht zuletzt ging es uns darum, mit diesem Format zu illustrieren, wie wenig eindeutige Prognosekraft in isoliert voneinander betrachteten Daten eigentlich liegt, warum und wie sich mit einem nur minimal veränderten Blickwinkel beides, Erfolg und Misserfolg, einleuchtend erklären lassen. Die Texte zeigen also nicht nur, wie fragil jegliche Arten von Prognosen immer sind, sondern auch, mit welcher Vorsicht letztlich expost-Analysen zu genießen sind – denn in der Rückschau ergibt sich vieles oft ganz wunderbar, hat eine vorhersehbare Entwicklung zu einem logischen Abschluss gefunden. Ebenso oft ist diese vermeintliche Logik aber nur retrospektiv hineinzudeuten. Schließlich hätte alles, um mit einer Binsenweisheit zu enden, auch ganz anders kommen können – und wäre dann ebenso schlüssig zu begründen gewesen.
So oder so: Herausgekommen sind interessante und überraschende Ergebnisse über die gegenwärtigen Erfolgspotenziale der etablierten politischen Parteien. Ergebnisse, die sich daraus ergeben, dass sich der Blick der Autoren auf Facetten der demoskopischen Erhebungen richtet, die für gewöhnlich übersehen werden, wodurch sich neue Deutungshorizonte öffnen und unkonventionelle Sichtweisen auf die Wahlaussichten der jeweiligen Stimmenkontrahenten ergeben.
Dieser und die dazugehörigen Beiträge erschienen ursprünglich in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2/2013.
[1] http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl-2013/umfrage-zurbundestagswahl-geplante-steuererhoehungen-waehler-strafen-peersteinbrueck-ab_aid_990157.html
[2] Vgl. Klaus-Peter Schöppner, Volksparteien: Die »gute«Politik. Paradigmenwechsel in den Grundüberzeugungen – und ihre Konsequenzen für den Wahlerfolg, Vortrag gehalten am 17. 05. 2013 in Schloß Eichholz.