Rot-grüne Renaissance?

[analysiert]: Michael Lühmann über die Koalitionsaussichten von SPD und Grünen.

Es war eine Premiere. Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel sprach Ende April 2013 auf dem Parteitag der Grünen, zwei Wochen nachdem Claudia Roth – erstmals – auf einem SPD-Parteitag gesprochen hatte. Rot und Grün, so die Botschaft, die alles andere als ihre Premiere feiert, sind bereit für den Machtwechsel in Berlin – wenn es denn reicht. Nun ist gerade das auf Bundesebene keineswegs ausgemacht. Anders als in den altbundesrepublikanischen Bundesländern ist eine rechnerische Mehrheit für Rot-Grün mehr wahlkämpfende Hoffnungsformel denn demoskopische „Realität“.

Rot-Grün vom Schwarzwald bis an die Nordsee

Es mag ja sein, dass man mittlerweile „von Flensburg bis zur Insel Mainau eine Fahrradtour machen [kann], ohne Gefahr zu laufen, dass [einem] ein schwarzer Ministerpräsident vor die Räder läuft“[1]. Es mag sein, dass „50 Millionen Deutsche mit diesem Zustand prima leben können“[2]. Der Blick auf die vergangenen Landtagswahlen mag diesen Zweckoptimismus noch unterstreichen. Denn trotz den für die Sozialdemokraten auszehrenden Jahren in der Großen Koalition bei gleichzeitigem Aufkeimen schwarz-grüner Blütenträume über Frankfurt, Hamburg und dem Saarland gewinnt Rot-Grün seit 2011 in den Ländern wieder reihenweise Wahlen. Das Lagerdenken, es scheint doch noch intakt zu sein.[3]

Von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz über Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und nicht zuletzt bis nach Niedersachsen hat das, bereits vor seinem ruhmlosen Abgang, ermattete, kaputte und ziellose Projekt[4] eine beeindruckende Renaissance erlebt – vor allem deshalb, weil die Grünen ihren Stimmenanteil ausbauen konnten, indem sie auch in klassisch bürgerliche Wählersegmente eindrangen.[5] Während die Krise der Sozialdemokratie weit über die deutschen Grenzen hinaus greifbar war[6] – die SPD erreichte bei den Europawahlen 2009 gerade noch 20,8 Prozent –, verleitete der grüne Aufstieg manch professionellen Beobachter zumindest zu der rhetorischen Frage, ob die Grünen eine Volkspartei ante portas seien.[7] Der Sieg Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg schien diese Diagnose zu bestätigen, ein grüner Zeitgeist den Eindruck zu untermalen.[8]

Foto: Matthias Koranzki / pixelio.de

Berlin ist nicht Baden-Württemberg

Doch die Bundestagswahlen sind zumeist nicht vergleichbar mit den Landtagswahlen der vergangenen Jahre, aus denen sich die Hoffnung auf Rot-Grün auch in der Bundeshauptstadt speist. Hier regiert eine populäre Kanzlerin, die kaum als Reibungsfläche taugt. Gegen blasse wie unbeliebte CDU-pur-Neokonservative wie Stefan Mappus in Stuttgart oder Christoph Ahlhaus in Hamburg,[9] gegen einen hoch über der Landesebene schwebenden Norbert Röttgen oder eine desolate schleswig-holsteinische Union sind die Siege von Rot-Grün – trotz Konkurrenz der Piratenpartei in Düsseldorf und Kiel – Muster mit geringem Wert. Anders allein die Niedersachsenwahl, die im Frühjahr 2013 gezeigt hat, wie eng beide Lager in der Gunst der Wähler beisammen sind, wenn der Amtsinhaber einen Popularitätsbonus besitzt und das bürgerliche Lager an der Wahlurne zusammensteht.

Mit Blick auf Berlin dürfte dies ein schwer überwindbares Hindernis sein. Denn es mag ja sein, dass die Etablierung der LINKEN im Westen ebenso gescheitert ist wie die der Piraten bundesweit. Aber im Gegensatz zu letztgenannten[10] erfreut sich die LINKE dank der ostdeutschen Wählerschaft in Verbindung mit den Rudimenten der linken Westausdehnung (auch ohne Oskar Lafontaine) über ein ausreichend großes Elektorat, um wieder in den Bundestag einzuziehen – selbst wenn es für die Neuauflage der Regierung Merkel/Rösler nicht reichen sollte. Für Rot-Grün ohne die LINKE gilt das gleiche. Und ohne einen erfolgreichen Probelauf auf Länderebene, ohne den Gestaltungswillen einer linken Mehrheit wird es im Bund Rot-Rot-Grün wohl nicht geben. Die von den Parteispitzen forcierte Etablierung eines rot-grünen Denkwerks – als Gegenentwurf zur, gleichwohl blass gebliebenen, rot-rot-grünen solidarischen Moderne – war hier ein deutliches Zeichen.[11]

Der falsche Kandidat

Folglich werden SPD und Grüne für eine eigene Mehrheit kämpfen müssen – ein schwieriges Unterfangen. Schwierig deshalb, weil die SPD mit der Nominierung Peer Steinbrücks einen kaum wettzumachenden Fehler begangen hat – zumindest wenn man unterstellt, dass die Sozialdemokratie wirklich angetreten ist, das rot-grüne Bündnis zu erneuern. Schließlich war die Nominierung des Kanzlerkandidaten Steinbrück, dessen Distanz zu den Grünen kein Geheimnis ist, ein Affront gegenüber dem vermeintlichen Wunschkoalitionspartner. Denn mit Steinbrück kämpft die SPD mit ähnlichen Themen um die gleichen Wechselwähler wie die Grünen. Der Finanzpolitiker Steinbrück soll die gleichen Wähler erreichen wie der Finanzpolitiker Trittin. Der rechte Sozialdemokrat erfüllt die gleiche Brückenfunktion ins bürgerliche Lager wie die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt. Die vergangenen Wahlen haben indes eindrücklich gezeigt, dass es vor allem die Grünen sind, die ins bürgerliche Lager einbrechen konnten. Der bürgerliche Wähler ist das Geschäft der Öko-Partei.

Die Aufgabe der SPD wäre eine andere, sie müsste nach links blicken. Ihre Gegner heißen nicht allein Merkel und Rösler, sondern auch und gerade Gysi, Wagenknecht, Kipping, Riexinger. Ohne rot-rot-grüne Machtoption und im Angesicht eines demoskopischen Aufschwungs der LINKEN werden hier die Wahlen verloren. Aber mit Steinbrück hat die SPD eine Maximaldistanz nach links zementiert. Auch weil Steinbrück nicht denkt wie etwa Hannelore Kraft. Sondern eher wie Klaus Wowereit. Den beiden Alphatieren ging es noch nie um irgendein rot-grünes Projekt, eine Minimalperspektive auf gesellschaftliche Veränderungen; sondern darum, den eigenen politischen Preis hochzutreiben. Und wenn die Kanzlerschaft gegen Merkel nicht zu gewinnen ist – wovon im Willy-Brandt-Haus nahezu alle ausgehen –, dann soll der Preis für die Vizekanzlerschaft wenigstens hoch sein.

Keine Hoffnung, nirgends?

Grund zur Hoffnung gibt indes ein Blick über die deutschen Grenzen, nach Österreich. „Rot-Grün! In! Kärnten!, das war noch vor wenigen Monaten so in etwa das politisch Unvorstellbarste überhaupt und auch bis vorgestern ziemlich unwahrscheinlich“, so Robert Misik in einer ersten Einschätzung der Wahlen im ehemaligen Stammland Jörg Haiders.[12] Am Ende reichte es zwar „nur“ für eine Dreierkoalition mit der ÖVP. Aber das Zustandekommen des überraschenden Wahlergebnisses für SPÖ und Grüne könnte, als Produkt zweier paralleler Entwicklungen, als Vorbild taugen: ein „im Wahlkampf gefahrener Paarlauf [der SPÖ] mit den Grünen, die sich um Aufklärung und Transparenz verdient gemacht haben“[13], und die „Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit im Vordergrund“[14] deren Notwendigkeit von der Landesregierung schlicht bestritten wurde. Auch Union und FDP leugnen nach Kräften eine zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft, während SPD und Grüne – bis auf Steinbrück eben[15] – im Gleichschritt mehr Umverteilung und höhere Steuern für Gutverdiener fordern – und damit, laut Umfragen aus dem April 2013, 58 Prozent der Deutschen aus dem Herzen sprechen.[16] Und in Bayern hat die CSU eine Vetternwirtschaftsaffäre vor der Brust, die immer weitere Kreise zieht.[17]

Wer weiß, vielleicht geht sich Rot-Grün in Berlin ja doch noch aus. Und wenn nicht, dann braucht Schwarz-Gelb noch immer eine eigene Mehrheit.[18]Oder Merkel die SPD…

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

 


[1] Philip Grassmann/Susanne Knott im Gespräch mit Jürgen Trittin, „Ich gebe nichts auf schlechte Umfragen“, in: Der Freitag, 25.04.2013.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Walter, Franz: Schöne Vorstellung, in: Der Freitag, 02.05.2013.

[4] Vgl. Richter, Saskia/Schlieben, Michael/Walter, Franz: Das rot-grüne Projekt – Rückblick auf eine Koalition, in: Böll-Jahrbuch 2007, S. 10-25.

[5] Vgl. Probst, Lothar: Aufbruch zu neuen Ufern? Perspektiven der Grünen, in: Jesse, Eckhard/Sturm, Roland (Hrsg.): „Superwahljahr“ 2011 und die Folgen, Baden-Baden 2012, S. 109-133.

[6] Vgl. Butzlaff, Felix/Micus, Matthias/Walter, Franz: Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011.

[7] Vgl. Probst, Lothar: Die Grünen. Eine neue Volkspartei ante portas?, in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 60 (2011) H. 6, S. 28-30; Kroh, Martin/Schupp, Jürgen: Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Jg. 78 (2011) H. 12, S. 2-9

[8] Vgl. Heyne, Lea/Lühmann, Michael: Bündnis 90/Die Grünen. Zwischen Zeitgeist und Wertewandel, in: Kallinich, Daniela/Schulz, Frauke (Hrsg.): Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009-2011, Stuttgart 2011, S. 283-304.

[9] Vgl. Lühmann, Michael: Warum die CDU am Ende allein dasteht, in: Cicero online, 07.12.2013.

[10] Die jüngste Entwicklung beschreiben Hensel, Alexander/Klecha, Stephan: Die Piratenpartei – Havarie eines politischen Projekts?, OBS-Arbeitshefte Band 74, Frankfurt a.M. 2013.

[11] Zur frühen Kritik vgl. etwa Strohschneider, Tom: Beziehungskiste. Rot-Grün, das Denkwerk Demokratie und eine Randnotiz, in: Der Freitag, 15.10.2011.

[12] Misik, Robert: Fürs Erste geheilt, in: die tageszeitung, 04.03.2013.

[13] Leonhard, Ralf: Kärntner werden erwachsen, in: die tageszeitung, 05.03.2013; hier ist es vor allem die Aufklärung diverser Korruptionsfälle der bislang regierenden Freiheitlichen (FPK).

[14] Ebd.

[15] Siehe o.V.: Steinbrück distanziert sich von grünen Steuerplänen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.2013.

[16] Vgl. Deutschlandtrend vom April 2013.

[17] Szymanski, Mike: Gehälteraffäre in der CSU. Seehofers geplatzter Traum, in: süddeutsche.de, URL: http://www.sueddeutsche.de/bayern/gehaelteraffaere-in-der-csu-seehofers-geplatzter-traum-1.1678537 [eingesehen am 23.05.2013].

[18] Eine solche Möglichkeit hatte bereits der Berliner SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß in die Diskussion eingebracht; vgl. o.V.: Notfalls im dritten Wahlgang, in: Der Spiegel, 30.03.2013.