[kommentiert]: Daniela Kallinich über die fehlende Stringenz der sozialistischen Regierung
Was ist da bloß in Frankreich los? Diese Frage stellen sich derzeit die Kommentatoren auf der anderen Seite des Rheins, durften sie doch am vergangenen Wochenende das überraschende Schauspiel verfolgen, wie ihr Präsident François Hollande eine juristisch einwandfreie Abschiebung halb zurücknahm. Die nervöse Reaktion des Präsidenten zeigt, wie groß die Rolle von Identitäts- und Migrationsfragen derzeit in Frankreich ist und wie stark das linke Lager bezüglich einer pragmatischen Regierungspolitik gespalten ist.
Was war passiert? Mitte Oktober wurde die 15-jährige Schülerin Leonarda während eines Schulausflugs von der Polizei abgeholt, um wenig später mit ihrer Familie abgeschoben zu werden. Dass die Behörden durch dieses Vorgehen wenig Fingerspitzengefühl gezeigt haben, ist unbestritten, zugleich jedoch war dieses Vorgehen völlig legal. Der Ausweisung folgten ein intensives Medienecho sowie Widerspruch in allen politischen Lagern[1] und auch aus den eigenen sozialistischen Reihen. Gleichzeitig gingen einige Tausend Schülerinnen und Schüler auf die Straßen, um gegen das Schicksal „ihrer Mitschülerin“ und eines anderen, ebenfalls ausgewiesen kasachischen Jugendlichen zu protestieren.
Um die aufgeheizte Stimmung in den Griff zu bekommen, verkürzte Innenminister Valls einen Besuch auf den Antillen und eilte schleunigst nach Paris zurück. Darüber hinaus verließ Präsident Hollande seine bislang gepflegte Linie der Zurückhaltung bei tagespolitischen Fragen und kündigte in einer TV-Ansprache an, dass Leonarda – nicht aber ihre Familie – zur Vollendung ihrer schulischen Ausbildung nach Frankreich zurückkehren könne. Die Schülerin schlug das Angebot direkt aus; ohne ihre Geschwister und Eltern wolle sie nicht nach Frankreich zurück.
Hollandes Angebot erzeugte in Frankreich einen Sturm der Empörung über alle Partei- und Mediengrenzen hinweg.[2] Dieser konzentrierte sich insbesondere darauf, dass Hollande binnen kürzester Zeit vor den Medien und angesichts der demonstrierenden Schüler eingeknickt sei. Gleichzeitig habe er eine juristisch einwandfreie Maßnahme und damit die Kompetenz seines Innenministers in Zweifel gezogen (und damit auch das Prinzip der Gewaltenteilung in Frage gestellt). Des Weiteren wird ihm vorgeworfen, er habe das Prinzip der Familienzusammengehörigkeit, welches für die Abschiebung der Schülerin begründend war, für die Rückkehr ausgehebelt. Kurzum: Schlichtweg niemandem, weder den Vertretern einer harten Linie gegenüber Asylbewerbern noch den Verfechtern des Humanismus, konnte er es mit seiner Stellungnahme recht machen.
Die Debatte fiel direkt in die aufgeheizte innen- und gesellschaftspolitische Stimmung in Frankreich; sie bewegt sich derzeit zwischen den Themen „Auflösung von Roma-Lagern“ und „Normalisierung des Front National“. Während der konservative Ex-Präsident Sarkozy aus Identitäts-, Migrations- und Ausländerfragen Stärke und Wählerstimmen gewinnen konnte, befindet sich die aktuelle linke Regierung mit ihrem Präsidenten Hollande in einem Dilemma. Während Parteibasis und die gesellschaftliche Linke ein strenges Vorgehen gegen illegale Einwanderer, festgemacht insbesondere an Roma-Camps, verurteilen, sieht sich die regierende Linke, insbesondere der Innenminister Valls, zu eben diesem Vorgehen gezwungen. Obwohl seine Politik im eigenen Lager umstritten ist, ist Valls derzeit der bei Weitem beliebteste Regierungspolitiker. Seine Zustimmungswerte zieht er dabei besonders aus dem konservativen Lager, das seine Politik als Fortsetzung von Sarkozys Hardlinerkurs lobt.[3] Dies stößt – kaum überraschend – auf wenig Gegenliebe im Lager der Linken.
Die „Affäre Leonarda“, zu der die Ausweisung in den französischen Medien mittlerweile gemacht wurde, steht für viele Probleme, denen sich die französische Regierung ausgesetzt sieht. Dazu gehört, dass die Parti socialiste es versäumt hat, in den Jahren ihrer Oppositionszeit ein schlüssiges Konzept für Migrations- und Identitätsfragen zu entwickeln. Obwohl mittlerweile an die Macht gekommen, hat sich das kritische Verhältnis genau dazu nicht verändert. Immer noch führen Teile der Basis und Anhängerschaft, sozialistische Wortführer aber auch ranghohe Abgeordnete und Regierungsmitglieder gesellschaftspolitische Debatten stark moralisierend und argumentieren bevorzugt mit Emotionen und Empörung, nicht mit Sachlichkeit. Hiervon hat sich Präsident Hollande am Wochenende scheinbar anstecken lassen, wohl auch um ein Ausufern der Schülerproteste zu verhindern.[4]
Es entwickelt sich hier eine Spaltung zwischen einem pragmatischen, gouvernementalen Flügel der PS, der hauptsächlich in den Pariser Ministerbüros anzutreffen ist und sich seiner Regierungsverantwortung bewusst ist, und einer basisnahen, sogenannten moralischen Linken, die sich immer noch teils in Widerspruch zu den Institutionen der V. Republik sieht. Die Vertreter dieser Gauche morale gewinnen derzeit an Einfluss, wie es an Äußerungen unterschiedlicher linker Politiker in der letzten Zeit bereits abzulesen war. Manche Mehrheitsangehörige enthielten sich beispielsweise bei der Abstimmung des Haushalts und orientieren sich in ihrem Verhalten eher am sehr linken Front de Gauche als an der Regierungslinie.
Problematisch für die Einheit des linken Lagers sind auch die Äußerungen des sozialistischen Parteichefs Harlem Désir, der die Ausländerpolitik der Regierung – mitten in einer Regierungskrise – offen kritisierte, oder die Aussagen des sozialistischen Parlamentsvorsitzenden Claude Bartolone. Dieser hatte – obgleich vierter Mann im Staat – indirekt die Wahrung sozialistischer Werte über die Einhaltung der Gesetze gestellt. Hier wird deutlich, wie stark sich Regierung, Partei, Parlamentsmehrheit und Basis bereits auseinandergelebt haben und wie schwer es der PS und ihren Anhängern immer noch fällt, sich als staatstragende Partei zu sehen.[5]
Der Fall Leonarda zeigt zudem, dass sich die französische Gesellschaft selbst in einer Art Identitätskrise befindet. Er verdeutlicht die Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Migrationspolitik, wo eine harte Linie besonders im rechten und eine weichere Linie im linken Lager vehement vertreten werden.[6] Das Ausländerthema steht dabei symbolisch für die Probleme eines Landes, das durch die Wirtschaftskrise und deren Konsequenzen – insbesondere was den Staatshaushalt angeht – sorgenvoll auf die Erhaltung seines identitätsstiftenden Sozialstaats blickt. Das Typische, das Französische sehen viele bedroht.
Lösungen für diese Sorgen, die sich auch an stetig steigenden Arbeitslosenzahlen festmachen, liefern allerdings in den Augen Vieler weder die sozialistische Linke noch die konservative UMP.[7] So wenden sich – was Umfrage- und Zwischenwahlergebnisse zeigen – viele französische Wählerinnen und Wähler dem Front National zu.[8] Während Nicolas Sarkozy 2007 noch einen Teil der abgehängten Protestwähler für sich gewinnen konnte, sind, wie es schon das Präsidentschaftswahlergebnis von 2012 zeigte, die meisten von ihnen und viele mehr mittlerweile zum rechten Original zurückgekehrt.[9] Der Partei am rechten Rand gelingt es, sich anhand der Migrations- und Identitätsdebatten zu profilieren.
So ist der Fall Leonarda ein weiteres Puzzlestück, welches einerseits die linke Regierung schwächen und gleichzeitig den rechtsextremen Front National stärken wird. Seine Vorsitzende versteht es genau, die Gräben zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, Krisenbetroffenen und -profiteuren, Ängstlichen und Optimistischen zu nutzen, so dass der Front National angesichts einer zerrissenen UMP, eines politisch kaum relevanten Zentrums und einer instabilen sozialistischen Partei als einzige Partei profitieren kann.
Daniela Kallinich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. o.A.: Leonarda: l’UMP et le MoDem critiquent la décision de Hollande, in: Lemonde.fr, online einsehbar unter http://www.lemonde.fr/politique/article/2013/10/20/leonarda-l-ump-et-le-modem-critiquent-la-decision-de-hollande_3499713_823448.html [eingesehen am 24.10.2013].
[2] O.A.: Leonarda: la presse condamne l’intervention de Hollande, in : liberation.fr, online einsehbar unter http://www.liberation.fr/politiques/2013/10/21/affaire-leonarda-la-presse-est-unanime_941136 [eingesehen am 24.10.2013].
[3] Vgl. BVA: Les Francais et l’affaire Leonarda, in: BVA.fr, online einsehbar unter http://www.bva.fr/data/sondage/sondage_fiche/1367/fichier_bva_pour_i_tele-cqfd-le_parisien_-_affaire_leonardaf0750.pdf [eingesehen am 24.10.2013].
[4] Vgl. z. B. Sébastien Le Fol: Leonarda, Hollande otage de la gauche morale, in: LePoint.fr, online einsehbar unter http://www.lepoint.fr/editos-du-point/sebastien-le-fol/leonarda-hollande-otage-de-la-gauche-moral-21-10-2013-1746451_1913.php [eingesehen am 24.10.2013].
[5] Vgl. Gérard Grunberg: La gauche dans le piège, in: telos.-eu.com, online einsehbar unter http://www.telos-eu.com/fr/la-gauche-dans-le-piege.html [eingesehen am 24.10.2013].
[6] So zeigten sich einer aktuellen Umfrage zu Folge nur 46 Prozent aller Franzosen schockiert von der Ausweisung Leonardas, 76 Prozent der Personen, die sich dem rechten Lager zuordnen, waren nicht schockiert, wohingegen sich im linken Lager 68 Prozent schockiert zeigten. Vgl. BVA: Les Francais et l’affaire Leonarda.
[7] Vgl. Cevipof: Baromètre de la confiance politique, Vague 4, Décembre 2012, in: opinion-way.com, online einsehbar unter http://www.opinion-way.com/pdf/opinionway_-_cevipof_-_barometre_confiance_en_politique_vague_4_vf_-janvier_2013.pdf [eingesehen am 24.10.2013].
[8] Vgl. Sophie de Ravinel: Le Front national l’emporte largement à Brignoles, in: lefigaro.fr, online einsehbar unter http://www.lefigaro.fr/politique/2013/10/13/01002-20131013ARTFIG00185-le-front-national-l-emporte-largement-a-brignoles.php [eingesehen am 24.10.2013].
[9] Zur Wählerschaft des Front National vgl. Pascal Perrineau: L’électorat de Marine Le Pen, in: Pascal Perrineau (Hrsg.): Le vote normal. Les élections présidentielle et législatives d’avril-mai-juin 2012, Paris 2013, S. 227-250.