[analysiert]: Franz Walter über Gestalt und Gehalt gegenwärtiger Jugendrevolten
Worum geht es bei der zeitgenössischen „Militanz der Straße“? Das ist nicht immer leicht zu sagen. Über Sprache und schriftliche Manifeste Resonanz zu erzeugen, ist vielen Militanten nicht sonderlich wichtig. Nicht die argumentative Rede ist ihr bevorzugtes Instrument, sondern die unmittelbare körperliche Handlung, welche durch den Bruch der Gesetze Aufmerksamkeit erzielt: eben geplünderte Läden, brennende Autos, verletzte Polizisten. Es herrscht der Kult des Augenblicks, die Befriedigung der Unmittelbarkeit, der Endorphin-Ausstoß der Tat.[1] In den militanten Aktionen spürt auch ein sonst Ohnmächtiger einen kurzen, aber berauschenden Moment der Macht. So wird der Straßenkampf zum Fest, das Steingeschoss zur Projektion von Omnipotenz. Natürlich rekurriert man gerne auf das uralte Symbol des Feuers, das Licht in die Dunkelheit einer verabscheuten Gegenwart bringen und jegliche Privilegien in Asche verwandeln soll. Für einen Moment kann man sich dadurch aus dem Immergleichen des Alltags erheben, ist Held der Straße, Star von Straßenschlachten. Eine programmatische Begründung für den Aufstand liefern die Handelnden kaum. Auf mögliche Bündnispartner wird nicht geachtet oder gar Rücksicht genommen. Sprecher mit Autorität nach außen fehlen offenkundig ebenso. So flackert der Aufruhr jäh auf, erreicht einen kurzen martialischen Höhepunkt – und fällt in sich zusammen. Ernsthaft bedroht sind die verhassten Herrschaftsverhältnisse dadurch nicht. Und auch das gilt: Proteste dieser Art waren und sind keineswegs „aufklärungsfreundlich, modern, zukunftsoffen, verbal-deliberativ, demokratisch oder primär an zivilgesellschaftlichen Normen ausgerichtet. Oft verkörperten sie in Mentalität und Praxis eher Gegenteiliges“; gewissermaßen „the ugly side of collective action“.[2]
Die große und glückliche Phase des berechenbaren, pazifizierten Konflikts zwischen hochformalisierten Großvereinigungen im industriellen Kapitalismus geht allmählich vorbei. Die verknüpfenden und abfedernden Puffer[3] sind rarer geworden. Der unregulierte Konflikt aber lädt Streit schnell essentialistisch auf.[4] Auch das mag die Schwelle sinken lassen, könnte Frustrationen in Enthemmungen und Militanz entladen. Die Barrikaden und Feuertänze in den europäischen (Vor-)Städten der letzten Jahre geben einen Vorgeschmack darauf, dass in der Strukturlosigkeit der organisationsfreien Lebensräume – dann als „sinnlos“ gewertete – Gewalt eruptiv ausbrechen kann, besonders in solchen Gesellschaften, in denen die jungen Erwachsenenkohorten dominieren und Aufwärtsmobilitäten durch massenhafte innergenerationale Konkurrenz in fiskalisch schwierigen Zeiten fraglich sind. Das ist dann keine Sache mehr allein des gering gebildeten, schlecht qualifizierten, gleichsam von Geburt an bereits unterschichtigen Vorstadtproletariats, das breitet sich in die gesellschaftlichen Zentren hinein aus, was sich in den letzten Jahren bereits bei den Kundgebungen in Athen, Rom, Madrid, auch in der Opposition in den arabischen Autokratien, in Ansätzen ebenfalls in der Türkei und in Brasilien, Anfang 2017 ebenfalls in Bukarest beobachten ließ. Die Teilnehmer dort zählten nicht zur Gruppe der Abgehängten, zur Klasse der Bildungsarmen. Im Gegenteil: In den neuen Protestbewegungen dominieren junge Leute mit Abitur und Hochschulausbildung, für die dort allerdings der Einstieg in eine sichere, materiell attraktive Berufslaufbahn versperrt ist[5] – was nicht unbedingt die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland beschreibt.
Schauen wir daher nach Frankreich. Dort konstatiert die Jugendpsychologin Cécile Van de Velde in einer Studie, dass der jugendliche Blick auf die Zukunft des eigenen Alterssegments äußerst pessimistisch ausfalle. Diese Kohorte definiere sich selbst als Generation „sacrifiée“ bzw. „perdue“, mithin als geopfert/aufgegeben bzw. verloren. Allerdings identifiziert die Jugendpsychologin ein enormes Potenzial für eine künftige Revolte: „Die jungen Leute sind nicht resigniert. Es existiert eine latente Energie, so wie 1968.“ Ja, so ihre Prognose: „Es reicht ein Funken aus …“ Doch zugleich gießt sie einen ordentlichen Schuss Wasser in den Wein jugendbewegter Hoffnungen auf ein neues 1968. Die Rebellion könne ebenso gut von einer ganz anderen Seite kommen, von den eigentlichen Hauptverlierern der Globalisierung, jenen „unsichtbaren jungen Leuten, deren Leben sich in einer Sackgasse befindet“, die keineswegs linkslibertäre Ziele verfolgen, sondern sich im Gegenteil von autoritären Einstellungen leiten lassen würden – „eine echte Zeitbombe“, wie die Autorin es ebenso besorgt wie drastisch formuliert.[6] Gleichviel aber, wie unterschiedlich die Motive im Jugendprotest auch sein mögen, zusammen führen der antiparlamentarische und antiinstitutionelle Unmut zu Synergien, welche die Stimmung grundlegender Ablehnung des Systems verstärken, gewissermaßen eine generelle Reserve und Radikalität erzeugen[7].
Im März 2016 gingen in Frankreich insbesondere Schüler und Studenten gegen die Reform des Arbeitsrechts, durch welche u.a. Entlassungen leichter möglich sein sollten und die daher von den jugendlichen Gegner als „loi précarité“[8] gebrandmarkt wurde, auf die Straße. In Paris arteten die Proteste zu regelrechten Straßenschlachten der Demonstranten gegen Polizeikräfte aus. Ein Hauch von 1968 lag über der französischen Kapitale, aber auch über anderen Städten des Landes. Die Fenster von Bankfilialen wurden zerstört, Polizeifahrzeuge umgeworfen, Barrikaden vor Oberschulen errichtet, um den Unterricht lahmzulegen.[9] Folgt man der Soziologieprofessorin Dominique Méda, dann entzündete sich die Revolte weniger an den Einzelheiten des „loi travail“, sondern entsprang vielmehr der generellen „Enttäuschung angesichts der nicht gehaltenen Versprechen von François Hollande“ sowie „dem Fehlen von glaubwürdigen Alternativen“[10]. Aus den Demonstrationen entwickelte sich am 31. März 2016 die sogenannte „Nuit Debout“-Bewegung.[11] Einige hundert junge Franzosen trafen sich als „Nachtschwärmer“ am Platz der Republik, um dort auch längerfristig auszuharren. Danach breitete sich die Idee für einige Wochen in andere Städte aus; in den Banlieus allerdings blieb sie ohne Resonanz.[12] Vieles erinnerte an die Occupy-Bewegung[13] bzw. die spanischen Indignados. Konsense im freien, offenen Diskurs, nicht präzise programmatische Ziele und Forderungen waren wichtig. Führungsfiguren und öffentlich herausgestellte Sprecher wurden abgelehnt. Alle Teilnehmer einte ein tiefes Misstrauen gegen die „politische Kaste“ insgesamt, gegen das etablierte System im Land. Vor weiteren Strukturen oder gar Institutionalisierungen innerhalb der Bewegung schreckte man zurück, da man Demokratie ganz anders leben wollte als die bisher bekannten politischen oder gewerkschaftlichen Formationen. Nach einiger Zeit indes versiegten die Energien dafür und das mediale Interesse daran. „Es ist nicht viel geblieben von der Bewegung, die am 31. März auf dem Platz der Republik in Paris entstanden ist“, so Le Monde am 9. Juli 2016. Die Vollversammlungen fanden nicht mehr statt, auch die Neugierigen, die einfach mal vorbeischauen wollten, tauchten nicht mehr auf. Nuit Debout hatte sich zwar in einige Städte außerhalb von Paris ausgebreitet, aber es war der Bewegung nicht gelungen, in die Vororte zu dringen und das „Unter-sich“ zu verlassen.[14]
Dennoch mag die Politologin Catherine Vincent von der Universität Rennes nicht pauschal von einem Scheitern sprechen: Es gebe „weder einen Misserfolg noch ein Verschwinden der Bewegung, sondern eine Umwandlung des Sinnes, den diese Bürger ihrem Handeln geben wollten“. Den Protestierenden sei es gelungen, „eine kollaborative Mobilisierungsplattform“ zu begründen. „Sie sind die Katalysatoren eines sozialen Handelns geworden, das in der Lage ist, in jedem Moment einsatzbereit zu sein.“ Dieser Effekt wird in Le Monde als „Rhizom-Engagement“ bezeichnet: Nach Art dieses unter der Erde oder dicht über dem Boden wachsenden Sprosses sei die Bewegung wohl nicht durchweg sichtbar, tauche aber punktuell, je nach politischer Gelegenheit wieder auf. „Man bekommt zu hören, dass Nuit Debout ein Misserfolg ist, weil es keine dauerhafte Organisation hervorgebracht hat. Aber diese Argumentation, die in der Politikwissenschaft sehr verbreitet ist, stützt sich auf einen binären Modus […]. Sie gründet auf der Idee, dass man entweder institutionelle Politik macht (als Mitglied oder als Berufspolitiker) oder, protestierend, am Rande des politischen Spiels bleibt, und dann ist man dazu bestimmt, parzelliert, fragmentarisch zu bleiben.“ Doch bei Nuit Debout sei wie auch bei anderen Engagementformen „das Erscheinen eines schlecht identifizierbaren politischen Objekts [erkennbar], dessen Natur es eben gerade ist, fragmentarisch [aufzutreten]“.[15]
Aber reicht das wirklich? Eine zielstrebig handelnde „Assoziation für sich“, die über gemeinsame Erfahrungen, übergreifende Interessen und Identitäten verfügt, steht offensichtlich nicht bereit. Der Vorrat an „Post“-Konzepten für die gewünschte Zeit nach dem Kapitalismus war und ist im linken Lager nicht gerade üppig gefüllt. Denn was dann? Gegenbewegungen sind auf Konferenzen, Kundgebungen, in Zeltdörfern präsent. Doch dort simuliert man mehr eine Gegen-Wirklichkeit. Um es zweifellos sehr pessimistisch zu formulieren: Intellektuell, organisatorisch, personell sind all diese Bewegungen auf den Ausgangspunkt dezidiert antikapitalistischer Strömungen irgendwo und irgendwann in den 1840er Jahren zurückgeworfen. Was Alternativen zur entfesselten Marktgesellschaft sein können, weiß man nicht. In welchem Verhältnis funktional entlastende Repräsentation und Delegation zu Formen direkter Willensäußerung und Entscheidung stehen, ist unklar. Wie die individuellen Bedürfnisse nach Besitz, Privatheit und Distinktion mit genossenschaftlichen Prinzipien, Gleichheitspostulaten und kommunitärer Transparenz vereinbart oder zumindest erträglich verknüpft werden können, bleibt diffus. Wie freiheitlicher Drang und gesellschaftliche Einbindung, wie Heterogenität und Integration zu balancieren sind, wie die Rationalitätsanmaßungen einer ökologischen Wirtschaftsführung mit den unsteuerbaren und eigenwilligen Erweiterungstrieben der Bürger dieses Planeten zu vermitteln sind etc. –auf all diese Fragen gibt es keine überzeugenden Antworten. Und das ist das Problem.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.
Über die Frage nach einer Renaissance von Jugendrevolten hat Franz Walter in seinem soeben erschienen Buch „Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. Und 21. Jahrhundert“ (erschienen im Verlag Vandenhöck & Ruprecht) geschrieben. Ein Teil davon findet sich im folgenden Blogbeitrag wieder
[1] Vgl. auch François Dubet, Die Logik der Jugendgewalt, in: Trutz v. Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 (1997) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 220–234.
[2] Manfred Gailus, Was macht eigentlich die historische Protestforschung?, in: Mitteilungsblatt für soziale Bewegungen, H. 34/2005, S. 124–154, hier S. 139 u. S. 152.
[3] Zu deren Bedeutung siehe Ekkart Zimmermann, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland: Entwicklungen und theoretische Erklärungsdefizite, in: Deutschland-Archiv, Jg. 35 (2002), H. 3, S. 385–400, hier S. 397.
[4] Vgl. Roland Eckert, Deprivation, Kultur oder Konflikt, in: Leviathan, Jg. 22 (2005), H. 1, S. 124–133.
[5] Vgl. Wolfgang Kraushaar, Der Aufstand der Ausgebildeten. Vom arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung, Hamburg 2012.
[6] Pascale Krémer, Frustrée, la jeunesse française rêve d’en découdre, in: Le Monde, 26.02.2014 (hier auch die Zitate von Cécile Van de Velde und Camille Peugny); Dies., Les coulisses du succès de l’opération ‚Génération quoi?ʻ, in: Le Monde, 26.02.2014.
[7] Anne Muxel, Une protestation antisystème, in: Le Monde, 26.11.2014.
[8] Zit. nach Adrien de Tricornot, Cours alternatifs et débats à Paris-VIII, in: Le Monde, 05.04.2016.
[9] Siehe hierzu ausführlich Mattea Battaglia u. Benoît Floc’h, Etudiants et lycéens se mobilisent contre le projet de loi travail, in: Le Monde, 03.03.2016; Adrien de Tricornot, „Loi travail“: les étudiants font mon-ter la pression, in: Le Monde, 13./14.03.2016.
[10] Dominique Méda, L’absence d’espoir déchaîne la colère sociale en France, in: Le Monde, 29./39.05.2016.
[11] Vgl. Raphaëlle Besse Desmoulières, Nuit debout, histoire d’un ovni politique, in: Le Monde, 07.04.2016.
[12] Elvire Camus u. Sylvia Zappi, Les Nuits debout restent balbutiantes en banlieues, in: Le Monde, 15.04.2016.
[13] Zu Occupy vgl. Lars Geiges, Occupy in Deutschland. Die Protestbewegung und ihre Akteure, Bielefeld 2014.
[14] Raphaëlle Besse Desmoulières u. Violaine Morin, Trêve générale à Nuit debout, in: Le Monde, 09.07.2016.
[15] Catherine Vincent: Toujours debout?, in: Idées. Le Monde, 01.04.2017