[nachgefragt]: Felix Butzlaff über die Demokratievorstellungen von Protest-Aktivisten
Du hast in Deiner Arbeit aktuelle Bürgerproteste in ganz Deutschland untersucht und dabei speziell die Organisatoren und die besonders engagierten Aktivisten in den Blick genommen. Worum ging es Dir dabei?
Ich habe mich in meiner Arbeit auf die Suche nach den gesellschaftlichen sowie individuellen Kerninhalten der Proteste gemacht. Es ging mir weniger um den konkreten Anlass als vielmehr um den roten Faden zwischen zeitgenössischen Protesten und der Frage, warum man sich für gerade diese Form des Engagements entscheidet. Da lag es nahe, sich die besonders engagierten Aktivisten anzuschauen, weil sich bei ihnen vieles von dem, was Proteste heute bedeuten, zuspitzt.
Wer sind die Aktivisten? Was treibt sie an und um?
Um die Aktivisten zu verstehen aber auch einzuordnen, sind zuerst einmal drei Punkte entscheidend: Erstens verfügen sie über die notwendigen Ressourcen, um sich überhaupt auf diese Art des Engagements einzulassen. Sie haben die Zeit, die Bildung und schließlich auch die sozialen Vernetzungen. Kurzum: Sie können das. Zweitens haben sie im Laufe ihres Lebens und speziell durch ihr Mitwirken in den neuen sozialen Bewegungen oftmals die Erfahrung gemacht, dass ein solcher Protest nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Gleichzeitig – und das ist die dritte essenzielle Komponente – haben sie eben genau nicht die Erfahrung gemacht, dass ein Engagement im Rahmen der konventionellen Strukturen, in Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen etwa, besonders produktiv sein kann. Im Gegenteil: Hierauf blicken sie allzu oft enttäuscht oder gar verbittert zurück.
Bleiben wir gleich bei diesem Gegensatz von klassischem und unkonventionellem Engagement. Was vermag der Protest heute zu versprechen, was die Parteien nicht (mehr) können?
Die Mitglieder dieser Protestgruppen betrachten sich selber als richtige, aktive, wehrhafte und eben besonders gute Demokraten. Auch die Institutionenordnung – das Grundgesetz, die Demokratie als Prinzip in Deutschland – wird besonders hoch gehalten und geschätzt. Die konkrete Politik hingegen, die diese Institutionenordnung ausgestaltet und in politische Praxis übersetzt, wird stark kritisiert. Das System einer Verhandlungsdemokratie, in dem sich Interessengruppen ihre parteipolitischen Vertretungen suchen, die dann politische Entscheidungen untereinander aushandeln, wird als eines der Grundprobleme politischer Praxis verstanden.
Demgegenüber steht die Protestgruppe, deren Hauptanliegen um ein einzelnes Thema kreist – sei es der Flughafen, der Bahnhof, die Bildungsreform, die Stromtrasse oder die Einführung einer europäischen Einheitswährung. Hieran entzündet sich der Protest. Dieses punktuelle Anliegen hat aber immer auch eine Stellvertreter-Symbolik. Es steht für all das, was ihnen schlecht bzw. gut erscheint. Deswegen besteht bei Protestgruppen auch an ganz vielen Stellen sehr wenig Raum für das, was wir als Kompromisskultur und Aushandlungsdemokratie bezeichnen. Wohingegen Parteien davon ganz grundsätzlich ausgehen. Parteien sind sowohl nach innen als auch nach außen hin permanent auf der Suche nach Kompromissen. Und genau hierin liegt eine der Stellen, an denen sich die Kritik an Demokratie oder dem politischen System Deutschlands am stärksten herauskristallisiert. Eine Lösung zu vertreten, von der sie wissen, dass sie nur dreißig oder fünfzig oder sechzig Prozent ideal ist: Das ertragen sie kaum.
Insofern geht es bei allen Protesten genauso um die Form, wie Entscheidungen zustande kommen, und darüber hinaus auch ganz generell um die Kräftegleichgewichte in unserer Gesellschaft. Der Protest wird von den Aktivisten also gleichermaßen als Engagement gegen ein von ihnen als fatal empfundenes politisches Projekt und als Einsatz für eine bessere Art und Weise, politische Entscheidungen zu treffen, und damit auch für eine bessere Gesellschaft verstanden und legitimiert.
Was genau meint denn in diesem Fall eine „bessere“ Gesellschaft? Wie sähe sie aus und wie ließe sie sich im Verständnis der Protestgruppen organisieren?
Felix: Der soziale Nahbereich, also das unmittelbare Umfeld, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Die Stadt bzw. das Stadtviertel oder die Gruppe derjenigen, die man als soziales Netzwerk um sich hat, kurzum: das, was man kennt, ist ein Bereich, der einem vergleichsweise homogen vorkommt. Hier kann man ein viel größeres Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit haben. Er wird daher einem gesamtgesellschaftlichen Bereich gegenübergestellt, in dem dieses Gefühl von Homogenität und darüber auch das Vertrauen, dass bestimmte Kompromisse im Interesse aller geschlossen werden können, ein bisschen verloren gegangen sind. Es ist dabei besonders spannend, wie stark der Glaube an die Kraft der Subsidiarität ist. Erst über die Organisation von Entscheidungen auf kleinstmöglicher Ebene, so der Glaube vieler Protestgruppen, können den Menschen wieder Handlungsspielräume gegeben werden.
Hierin liegt in der Meinung vieler Protestgruppen ein Mittel, schädliche, überbordende Heterogenität in der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Das bedeutet aber nicht, dass die Aktivisten jede Art von Heterogenität und Diversität ablehnen, im Gegenteil. Es gibt eine schädliche und eine demgegenüber als besonders positiv empfundene Heterogenität; die nämlich, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Die Protestgruppen als soziale Gruppen sind stolz darauf, dass es so verschiedene Leute bei ihnen gibt, die über das thematische Anliegen zueinander gefunden haben.
Überschreitet die Heterogenität aber dieses Maß an Überschaubarkeit, gilt sie als schädlich, weil sie zu Interessenkonflikten, der Durchsetzung von Partikularansichten und schließlich zu der benannten unsäglichen Kompromisskultur führt. Kurzum: In der Frage nach einer idealen Gesellschaftsordnung ist es sehr spannend, zu beobachten, wie das lokale politische Umfeld als etwas Authentisches, Nicht-Strategisches und daher Schützenswertes verstanden wird. Die große Bedeutung der lokalen Ebene der Politik rührt natürlich nicht zuletzt daher, dass die Protestgruppen hier selbst zu einer Elite gehören können und sie die Forderung nach größeren Entscheidungsfreiräumen ganz unmittelbar selbst betrifft. Hierin zeigt sich letztlich eine Vorstellung von Demokratie, die den Gedanken an Repräsentativität verwirft und stattdessen die Formulierung eines Allgemeinwohls nur noch dem einzelnen, genauer: sich selbst zutraut. Für eine Verhandlungsdemokratie ist das nicht unproblematisch.
Abschließend noch ein Schlaglicht auf das, was kommen könnte: Werden uns die Proteste noch weiter und noch mehr beschäftigen?
Ich glaube schon. Wenn wir uns anschauen, wie auf der einen Seite Prägungen auf ein Engagement im Protest vorbereiten, wie sehr diese prägenden Erlebnisse zugenommen haben und wie sich auf der anderen Seite zugleich die stabilen Verbindungen von Parteien und politischen Milieus in den letzten Jahrzehnten aufgelöst haben, spricht vieles dafür. Der Grundgedanke von Parteien, als Repräsentations- und Aushandlungsorgane zu allen Themen Stellung zu beziehen, stößt auf immer mehr Ablehnung, weil viele Leute für sich feststellen, dass sie eben nicht überall, sondern vielleicht nur in drei oder vier Punkten mit einer Partei übereinstimmen. Die Frage, ob man das nun aushält oder aber seine eigene Interessenvertretung gründet, wird uns zumindest noch mehr beschäftigen als bisher. Man kann also durchaus erwarten, dass der Protest als Form des politischen Gehört-Werden-Wollens enorm zunehmen wird.
Das Gespräch führte Robert Mueller-Stahl.
Felix Butzlaff ist wissenschaflticher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Gerade ist sein Buch „Die neuen Bürgerproteste in Deutschland. Organisatoren – Erwartungen – Demokratiebilder“ im Transcript-Verlag erschienen.