[debattiert]: Frauke Schulz antwortet auf den Kommentar von Julian Kirchherr vom 24.05.2012 auf Zeit online mit dem Titel „Politikwissenschaft ist Mist„.
Lieber Julian,
ganz offensichtlich hast Du das falsche Fach studiert oder genauer: Du hast Dein Studium mit völlig falschen Erwartungen begonnen.
Ich gebe zu, auch ich habe mich in meinem Politikstudium manchmal gefragt, wofür das, was Dozenten mir zu lesen gaben, nützlich sein sollte. Viele Texte sind sperrig formuliert und wirken durch ihre randständigen, kleinteiligen Themen wenig relevant. Das ist ein Problem, das von viel mehr PolitikwissenschaftlerInnen überwunden werden muss. (Vgl. hierzu Lawrence Mead: Reformiert die Politikwissenschaft, in: INDES 0/2011, S. 126).
Texte, die vor vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten geschrieben wurden, beurteile ich dagegen etwas anders. Ich lese bis heute nicht gerade leidenschaftlich gerne theoretische Texte. Trotzdem muss ich sagen: Auch wenn sie nicht beim ersten Lesen und ohne ausgiebige Reflexion verständlich sind, macht es Sinn, sich damit zu beschäftigen. Durch sie kann man die politische Ideengeschichte nachvollziehen und abstrakte und dehnbare Begriffe wie „Demokratie“, „Politik“ und „Beteiligung“ mit Inhalt füllen. Der Politikwissenschaft würde sonst die philosophische Substanz fehlen.
Die ganze Tragweite dieser Texte erschließt sich oft erst nach gründlichem Durchdenken und in der Gesamtschau unterschiedlicher Ansätze. Versucht man, sie alle nur auf drei Kernthesen heruntergebrochen in einen Seminar-Reader zu quetschen, den Du als mundgerechte Vorbereitung auf die Klausur verwenden kannst, geht ihr Wert verloren.
Frau Florin hätte mich vielleicht auch als wassernuckelnde Studentin wahrgenommen. Doch natürlich hat sie mit einem Recht: Gerade im Hinterfragen, im kritischen Blick auf Literatur und in der kontroversen Diskussion liegt ein zentraler Inhalt des politikwissenschaftlichen Studiums. Wieso erscheint es Dir erstrebenswert, mit Lernstoff gefüttert zu werden, anstatt selbständiges Denken zu üben? Weder bei McKinsey noch bei Spiegel Online wirst Du mit dieser Einstellung weit kommen – in der Wissenschaft schon gar nicht.
Du fragst nach Rezepten gegen demografischen Wandel, nach dem Ausgang von Wahlen oder nach Extremismus. Erstens erledigen sich solch komplexe Themen nicht durch lineare Argumentationen und absehbare Kausalketten, wie Du es Dir offensichtlich wünschst. Zweitens ist es gar nicht die Aufgabe von Wissenschaftlern, in einem Bachelor- oder Masterseminar Lösungen für die zentralen Probleme der Gegenwart zu entwickeln – es liegt wohl auch nicht in ihrer Macht. Und drittens, was das Wichtigste ist: Du sprichst von Instrumenten, Steuerung und messbaren Effekten, ganz im Geiste unserer pragmatisch-technokratischen Zeit. Hast Du nicht gelernt, dass zu Politik auch immer Macht gehört? Dass Akteure – also Menschen – mit unterschiedlichen Interessen am politischen Prozess beteiligt sind? Dass Ideologien im Spiel sind, Werte und historische Entwicklungen? Politik funktioniert eben nicht nach dem einen, simplen Reiz-Reaktions-Schema, das Du gerne erlernen willst.
Ich komme jetzt aber erst zum schwerwiegendsten Problem Deiner Kritik am Studium der Politikwissenschaft: Du beklagst, dass es Dich nicht auf Dein Amt als Stadtrat vorbereitet hat. Ich könnte Dich jetzt erst einmal fragen, wieso Du Dich in ein Amt wählen lässt, für das Du offenbar, aus Deiner eigenen Sicht, nicht ausreichend Wissen und Erfahrung mitbringst. Ich frage Dich stattdessen lieber: Was für ein Verständnis von Demokratie vertrittst Du mit dieser Kritik eigentlich?
„Politiker“ ist einer der wenigen Berufe, für die es keine institutionalisierte Ausbildung gibt. Unter anderem deshalb kommt den Parteien auch eine monopolartige Stellung bei der Rekrutierung des politischen Nachwuchses zu. Das muss man sicher nicht gutheißen. Doch natürlich hält dieser Umstand den Beruf „Politiker“ auch offen für jeden, egal welchen Bildungshintergrund und welche Ausbildung er mitbringt. Denn, wie Du wahrscheinlich schon in der Schule gelernt hast, das passive Wahlrecht, also das Recht gewählt zu werden, gilt für jedermann – nicht nur für Politologen.
Wie unheilvoll wäre es, wenn erst das Studium der Politikwissenschaft Dich zum Politiker qualifizieren würde? Oder umgekehrt: Wer würde dann überhaupt noch in den Rathäusern, Kreistagen, Landesparlamenten und im Bundestag sitzen? Ausschließlich Akademiker, die, wie wir wissen, meist aus einer relativ homogenen sozialen (nämlich privilegierten) Schicht stammen? Schlimmer noch: Nur noch Politologen würden politische Ämter ausüben? Es wird auch heute schon moniert, dass die Volksvertreter kaum noch alle Berufsgruppen, Milieus und Schichten abdecken. Doch nach Deiner Theorie könnte man dieses Ideal gleich ganz begraben. Es hat seinen Sinn, dass sich der Übernahme von politischen Ämtern keine formalen Hürden in den Weg stellen. Mehr noch: Dies ist eine der zentralen Voraussetzungen unserer Demokratie!
Um mir die Worte des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zu leihen: Politikwissenschaft ist keine Ausbildung zum Politiker – und das ist auch gut so.
Frauke Schulz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Dieser Text ist eine Antwort auf den Text von Julian Kirchherr, der am 24.05.2012 auf Zeit online unter dem Titel „Politikwissenschaft ist Mist“ erschienen ist.