Politikwahrnehmung der Mittelschicht

[analysiert:] Unsere Mitarbeiter haben gemeinsam mit der Agentur Q erforscht, was die Menschen in der Mitte bewegt. Stine Harm fasst exklusiv für den Blog erste Ergebnisse zusammen:

Mütter, die sich zwischen Halbtagsjob und Kinderbetreuung aufreiben, Männer, die den ganzen Tag arbeiten, damit es für das Eigenheim, den Familienvan und den Jahresurlaub reicht, langverdiente Arbeitnehmer, die sich um ihre berufliche Zukunft und um ihre Rente sorgen oder junge Berufseinsteiger, die mit ihrem Einkommen nicht an Familienplanung denken wollen – das ist die deutsche Mitte.

Und all jene mit – grob gesagt – mittlerem Einkommen und mittlerem Bildungsabschluss trauen der Politik kaum noch etwas zu. Ein großer Teil der Gesellschaft fühlt sich von ihren Volksvertretern allein gelassen. In ihren Augen lässt die politische Klasse die Bürger mit ihren Problemen sitzen – jedoch entwickelt sich daraus bei den gut bis sehr gut Gebildeten nicht etwa Frustration und Apathie, wie sie von uns beispielsweise in der sogenannten »Unterschicht« beobachtet worden war, sondern eher eine emotionslose Distanz. Eben weil die Mitte nichts mehr von den Politikern erwartet, stellt sie an diese auch keine Ansprüche mehr, erhofft sich nichts mehr von ihnen und ihren Entscheidungen. Das ist eines der Ergebnisse unserer aktuellen Untersuchung.

Gemeinsam mit „Q der Agentur für Forschung“ haben wir im Dezember 2009 und im Mai 2010 Bürger über Politik, Wertvorstellung, Engagement und ihre Zukunftsvorstellung befragt. In den mehrstündigen Gruppengesprächen, die in unterschiedlichen Städten stattfanden, wollten wir herausfinden, wie die Menschen Politik wahrnehmen und sich darüber informieren. Welche politischen Themen sind wichtig für sie, was für Erwartungen haben sie an die Politik, aber auch durch welche Medien lassen sie sich Politik vermitteln und wie bilden sie sich überhaupt eine Meinung – solche und weitere Fragen haben wir den jeweils sechs bis neun Teilnehmern in intensiven Gruppendiskussion gestellt.

Die Befragten gestehen der Politik auch deshalb kaum noch Veränderungsmöglichkeiten zu, weil sie ihr keinerlei Gestaltungsspielräume mehr zutrauen: äußere Zwänge würden der Politik nur noch die Richtung vorgeben. Weil die Kassen leer seien und in erster Linie gespart werden müsse, weil die Wirtschaft der Politik ohnehin die Gesetze vorschreibe und weil die EU sowieso ein Großteil der Gesetze vorgebe – unter diesen Umständen habe die nationale Politik doch keine Chance, auch nur ansatzweise etwas zu verändern.  Da die Menschen die Politik auf diese Weise wahrnehmen, klingen auch die Versprechen des politischen Personals in ihren Augen hohl. Sie fragen sich, wie ihnen im Bundestagswahlkampf 2009 noch Steuersenkungen versprochen werden können, während nur ein paar Wochen später milliardenschwere Spar- und Rettungspakete verordnet werden. Ihnen ist nicht nur unklar, wie Menschen innerhalb kürzester Zeit über die Verschiebung von unvorstellbar viel Geld entscheiden können, sondern auch auf welchen Grundlagen und Prämissen diese Beschlüsse basieren. Sie bekommen es ja auch nicht erklärt.

Dabei ahnen sie, dass Politik mehr ist, als simple Kausalzusammenhänge, dass es in Zukunft auch »schlechte Nachrichten« geben wird und Sparmaßnahmen unausweichlich sind, doch sie wollen es nachvollziehen, nicht nur kommentiert sondern auch ausgedeutet und interpretiert bekommen. Die Mitte der deutschen Gesellschaft fühlt sich nicht ernst genommen, hat das Gefühl, dass an Ihnen vorbei geredet wird, sich niemand traut, ihnen die „Wahrheit“ zu sagen. Hier offenbart sich eine zunehmende Entfremdung zwischen den Bürgern und dem politischen System, so wie es von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird. Und dies stellt auf die Dauer doch eine enorme Belastung für unser demokratisches Gemeinwesen dar und darf nicht einfach ignoriert werden.

Eine genaue Analyse und Auswertung der Daten steht in den nächsten Wochen jedoch noch an. Die Ergebnisse werden dann auch hier auf dem Blog diskutiert.

Stine Harm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.