Einzelkämpfer auf Distanz zur Partei

Beitrag verfasst von: Alexander Deycke

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[kommentiert]: Alexander Deycke berichtet Eindrücke vom Wahlkampf der Auslandsfranzosen.

Frankreich wählt ein neues Parlament. Doch nachdem ganz Europa gespannt die Präsidentschaftswahl unseres westlichen Nachbarn verfolgt und erleichtert aufgeatmet hat, als feststand, dass nicht die Nationalistin Marine Le Pen, sondern der juvenile linksliberale und erklärte Proeuropäer Emmanuel Macron in den Élysée-Palast einzieht, ist die Aufmerksamkeit für das innenpolitische Leben Frankreichs hierzulande abgeflaut. Dabei entscheidet sich im derzeit geführten Wahlkampf, ob der neue Präsident bei der Umsetzung seiner Reformvorhaben auf eine parlamentarische Mehrheit seiner jungen Partei La République En Marche! und deren Partner Mouvement Démocrate wird bauen können oder aber auf die Kooperation der alten, etablierten Parteien rechts und links der Mitte angewiesen sein wird. Nachgerade eine Erosion der parlamentarischen Existenz sagen die aktuellen Umfragen der Parti socialiste (PS) voraus, die noch in den vergangenen fünf Jahren mit ihrem besten Wahlergebnis in der Geschichte der Fünften Republik die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung stellte. Zahlreiche führende Köpfe und Mandatsträger sind bereits zu La République En Marche! übergelaufen. Schlimmstenfalls, so die Demoskopen, werde die sozialistische Fraktion auf ein Sechstel ihrer bisherigen Größe zusammenschrumpfen. Vor diesem Hintergrund ist es reizvoll, dem aktuellen sozialistischen Abgeordneten der Auslandsfranzosen in Deutschland zu begegnen und zu erleben, wie er in Zeiten größtmöglichen Gegenwindes für seine Partei um die Verlängerung seines Mandates wirbt.

Pierre Yves Le Borgn’ ist nach Hannover gekommen, um sich in einer sogenannten réunion publique (einer „öffentlichen Zusammenkunft“) interessierten Wählern mit der Bilanz seiner ersten Amtszeit und mit Plänen für eine potenzielle zweite zu präsentieren. Seit 2012 erst können sich die Auslandsfranzosen an der Wahl zur Assemblée Nationale, dem französischen Unterhaus, beteiligen. Zu diesem Zweck ist die Welt außerhalb Frankreichs und seiner Überseeterritorien in elf Wahlkreise eingeteilt. In Deutschland lebende Französinnen und Franzosen, rund 110.000, wählen ihren Repräsentanten in Paris im siebten Auslandswahlkreis, der neben der Bundesrepublik ganze 16 weitere Staaten mittel- und Südosteuropas umfasst. Gewählt wird ebenso wie im Mutterland in Einpersonenwahlkreisen mit absoluter Mehrheit und deshalb in der Regel in zwei Wahlgängen.

Für den Wahlkampf in Hannover hat Le Borgn’ einen politisch neutralen Ort im Bahnhofsviertel gewählt. Nicht in die nahe lokale Parteizentrale der deutschen Schwesterpartei hat der gebürtige Bretone geladen, sondern in die Räumlichkeiten der Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen Wolfsburg, einer der regionalen Wirtschaftsförderung verschriebenen GmbH der beteiligten Kommunen. Im Flur des zweiten Stocks eines funktionalen Bürogebäudes in der Herrenstraße stehen sieben Stühle für potenzielle Wähler bereit. Das Interesse an der Veranstaltung ist damit treffend antizipiert; fünf Damen und ein junger Herr haben sich eingefunden, um ihren Abgeordneten, der gegen 15 konkurrierende Kandidaten zur Wahl antritt, kennenzulernen.

Der Politologe und Jurist Le Borgn’ ist 53 Jahre alt und ehemaliger Manager beim US-Konzern First-Solar. Er begrüßt die interessierten Wähler mit Handschlag und installiert sein mitgebrachtes Roll-Up. Dieses zeigt, gegliedert in ein modernes, von der Farbe Grün dominiertes Layout asymmetrischer Kacheln, den Parlamentarier im Dialog mit jungen Menschen am Seine-Ufer in Paris und verrät dessen zahlreiche Kontaktdaten. Ebenfalls für einen sozialistischen Kandidaten auffallend grün und grau gehalten ist auch die Wahlbroschüre, die er verteilt. Allein die Tatsache, dass die eine rote Rose umschließende Faust – das Symbol nicht nur der sozialistischen Internationale und der deutschen Jusos, sondern auch der Parti socialiste – oben links neben den Lettern P und S auf dem Deckblatt zu sehen ist, deutet auf die parteiliche Bindung des Kandidaten hin. Le Borgn’ entschuldigt sich: Die Broschüre sei schon vor der Präsidentenwahl gedruckt worden; daher fehle der Slogan „Avec Macron“ – „Mit Macron“, mit dem inzwischen aktuelleres Wahlkampfmaterial aufwartet.

Hinweise auf ein sozialistisches Wahlprogramm oder Ansätze einer Abgrenzung zu den Sozialliberalen der Macron-Partei sucht man in dem Heftchen vergeblich. Im Gegenteil: Alles deutet auf die Intention hin, Distanz zu der Partei herzustellen, deren Kandidat Le Borgn’ immerhin ist. So wird gleich auf der zweiten Seite verraten, welchen Gesetzesprojekten der Ära Hollande Le Borgn’ die Zustimmung versagt hat: der Ausweitung der Geheimdienstbefugnisse, der Verlängerung der Notstandsgesetze und dem Vorhaben, die strafrechtliche Möglichkeit einer Aberkennung der Staatsangehörigkeit von Doppelstaatlern zu schaffen. Le Borgn’ verteidigt die Grundrechte seines Elektorats, wird damit illustriert.

Um das Jackett seines Anzugs erleichtert, stellt sich der Franzose vor den ihm bereitgestellten Stuhl und hebt an zum Referat des Inhalts vorliegender Broschüre, d.h. zur Bilanzierung seiner Tätigkeit der vergangenen und zur Darstellung der Pläne für die kommenden fünf Jahre. Le Borgn’ ist ein Kümmerer: Immer wieder lächelnd und sichtlich begeistert berichtet er vom typischen Ablauf seiner Arbeitswoche, in der er zwischen Paris, dem Wahlkreisbüro in Köln und der Familie in Brüssel pendele. Er erzählt, wie er sich nicht nur im Plenarsaal für die französischen Rentner in Deutschland eingesetzt habe, gegen die ungerechte Besteuerung der Auslandsfranzosen, die Einkommen aus ihrer Heimat beziehen, kämpfe und sich für die sprachliche Bildung der französischen Schüler in Deutschland oder die Verbesserung der konsularischen Betreuung seiner Landsleute im Wahlkreis engagiere. Ebendiese Themen sind es auch, denen der Abgeordnete sich in den kommenden fünf Jahren primär widmen wolle und zu denen er konkrete Vorschläge formuliert. Dass er die Widrigkeiten des Alltags kennt, denen ein französischer Staatsbürger in Deutschland gegenübersteht, und auch unkonventionelle Wege nicht scheut, um seinen Landsleuten zu helfen, vermag der Wahlkämpfer überzeugend zu vermitteln.

Nach dem Ende des Vortrags ist Zeit für Nachfragen. Und endlich kommt dem Kandidaten nun das erste und einzige Mal der Name seiner Partei über die Lippen. Als eine der anwesenden Wahlberechtigten ihre Verwirrung äußert ob der Tatsache, dass sich wie Le Borgn’ gleich drei der zur Wahl stehenden Kandidaten zu Unterstützern des neuen Präsidenten erklärt haben, heißt es von dem Sozialisten nur knapp, er trete eben für die PS an, „weil es meine Partei ist“. Aber er stehe hinter vielen Punkten des Macron’schen Programms und wolle diesem bei dessen Verwirklichung behilflich sein. Über die Pläne des unlängst grandios gescheiterten Präsidentschaftskandidaten der Parti socialiste, Benoît Hamon, der mit dem bedingungslosen Grundeinkommen um Stimmen geworben hatte, verliert Le Borgn’ hingegen kein Wort.

Eine weitere Nachfrage zielt auf Le Borgn’s Haltung zum sozialistischen Ex-Präsidenten François Hollande. Umgehend verschanzt sich der Abgeordnete hinter seinem Stuhl und bemüht sich, vage zu bleiben. Seinen ehemaligen Universitätslehrer und Präsidenten will er weder deutlich angreifen noch vehement verteidigen. Zu wenig erklärt habe Hollande seine Politik, Fehler zuweilen erst spät oder gar nicht erkannt. Der Erfolg der Reformen werde sich überdies erst zeitversetzt zeigen. Es sei eben wie mit Schröders Agenda 2010.

Nach rund anderthalb Stunden ist die réunion publique zu Ende. Von den Wahlberechtigten kommen keine Fragen mehr, die Hände sind schnell geschüttelt und die Wahlkampfkulisse ist in wenigen Sekunden abgebaut. Der sozialistische Kandidat für die Französinnen und Franzosen zwischen Nordsee und Schwarzem Meer, so scheint es nach dieser Kleinstwahlveranstaltung in der niedersächsischen Landeshauptstadt, hat sich entschieden, um die Gunst der Wähler vor allem als Einzelkämpfer für die spezifischen Interessen der im Ausland lebenden französischen Staatsbürger zu werben. Die Parteizugehörigkeit des Politikers soll offenbar nur als peripheres Attribut wahrgenommen werden und tunlichst keine bestimmende Rolle bei der Wahlentscheidung spielen. Aufklärung darüber, welche grundlegenden Werte, Ideen oder gar Visionen für die Zukunft Frankreichs die Parti socialiste und ihre Kandidaten antreiben und von der zahlreichen politischen Konkurrenz abgrenzen, wünscht man sich nach dieser Begegnung nicht weniger als zuvor.

Alexander Deycke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.