[kommentiert]: Jens Gmeiner über das Scheitern der Pegida-Proteste in Schweden
Sicherlich, zahlenmäßig waren die Pegida-Proteste in Schweden kaum von Belang. Anfang Februar diesen Jahres versammelten sich nicht mehr als fünfzig Demonstranten in der südschwedischen Großstadt Malmö. In Linköping mit seinen knapp 100.000 Einwohnern marschierten, oder besser gesagt, harrten Anfang März ganze vier Demonstranten aus, umgeben von hundertmal so vielen Gegendemonstranten. Auch die mediale Reaktion auf die vom Kunstgaleristen Henrik Rönnquist initiierten Pegida-Märsche fiel sehr überschaubar aus. Von einer Volksbewegung, wie es Rönnquist vorschwebt, kann man auf Basis der bisherigen Beobachtungen wirklich nicht sprechen. Und dennoch ist das antiislamische und einwanderungsfeindliche Potenzial keineswegs marginalisiert in Schweden: Im Gegenteil: Die Forderungen von Pegida sind längst im Parlament angekommen, ganz ohne Massenproteste und Demonstrationen.
Massenproteste haben es in der jüngeren schwedischen Geschichte bisher schwer gehabt. Wenn überhaupt ist es vor allem rechten und rechtsextreme Gruppen in den letzten Jahrzehnten gelungen, Menschen auf die Straße zu bringen. Nach Aussagen des Chefredakteurs der Zeitschrift Expo, Daniel Poohl, hat es die schwedische Pegida-Bewegung allerdings nicht geschafft, organisatorische Brücken zur vitalen Hooligankultur und weiteren Organisationen des rechten Milieus in Schweden zu bauen. Die schwedische Bewegung werde selbst von der antimuslimischen Blogosphäre nicht wirklich ernst genommen, so Poohl, der mit der antirassistischen Stiftung Expo die schwedische rechte Szene seit Jahren beobachtet.[1]
Also alles gut in Schweden? Mitnichten.
Während sich in Deutschland der rechte Protest vor allem, aber nicht nur auf die Straßen der sächsischen Hauptstadt verlagert hat, weil eine tiefergehende parlamentarische Debatte über die reichlich vorhandenden Probleme der bundesdeutschen Gesellschaft ausgeblieben ist, bleiben in Schweden die Straßen bei Pegida-Veranstaltungen größtenteils leer, weil das rechte Potenzial bereits parlamentarisch kanalisiert ist. Das verwaiste Terrain im rechten Spektrum wird seit einigen Jahren von den Schwedendemokraten ausgefüllt, die seit 2010 im Parlament vertreten sind. Mit fast 13 Prozent stellen die Rechtspopulisten seit der Parlamentswahl im Jahr 2014 sogar die drittgrößte Fraktion im schwedischen Reichstag. Somit gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr auf die Straße zu gehen und mit Pegida zu demonstrieren. Allerdings lassen sich in Schweden einige Entwicklungen diagnostizieren, die auch für die Bundesrepublik perspektivisch zum Denken und Debattieren anregen könnten.
Schweden ist wie Deutschland relativ gut aus der Finanzkrise herausgekommen. Die Mittelschichten sind materiell und kulturell noch immer gut gestellt, der Sozialstaat im europäischen Vergleich relativ umfassend ausgestattet. Schweden nimmt wie Deutschland eine Vielzahl der in Europa angekommenen Flüchtlinge auf. Bis heute besteht hier – im Gegensatz zu anderen skandinavischen Ländern – größtenteils der mediale Konsens, den Diskurs über Migration, Einwanderung und Multikulturalismus in eine positive Richtung zu lenken. Und dennoch: die Rechtspopulisten sind bei der letzten Wahl – trotz ihrer neofaschistischen Wurzeln und ihres wenig charismatischen Führungspersonals – zur drittstärksten Kraft aufgestiegen. Dafür gibt es gewichtige soziale, politische und ökonomische Ursachen.
Die Verteilungskämpfe um die wohlfahrtsstaatlichen Ressourcen haben auch in Schweden ihre Spuren hinterlassen. Gerade weil der Wohlfahrtsstaat (noch) Bestand hat und die Anrechte auf dessen Leistungen teilweise universell sind, sind seit den sozialstaatlichen Transformationsjahren der 1990er Jahre vermehrt Abgrenzungsbestrebungen der Mittelschichten nach „unten“ zu vernehmen.[2] Diese Grenzen können, wie bei den Wahlerfolgen der liberal-konservativen Moderaten und ihren bürgerlichen Partnern2006 und 2010, zwischen „fleißigen“ Arbeitnehmern und „passiven“ Beitragsabhängigen („Outsidern“) des Arbeitsmarktes gezogen werden.
Die Schwedendemokraten dagegen konstruieren ethnische Kriterien, um sozialstaatliche Vorrechte für Etablierte zu verteidigen. Wer vom kleiner werdenden Kuchen ausgeschlossen werden soll, das wird bei den Rechtspopulisten nicht primär ökonomisch, sondern größtenteils kulturell begründet. Dies trifft in Schweden, wie auch in Deutschland, vor allem Flüchtlinge, Einwanderer und Muslime, die nicht in das ethnische „Volksheim“ der Rechtspopulisten passen.
Beide Strategien sind Antworten auf eine Moderne, die auch in Schweden zunehmend von ökonomischen Alternativlosigkeiten, Statuskämpfen und einer Wettbewerbslogik dominiert wird. Aufstieg für alle, noch immer das vorherrschende Topos der schwedischen Gesellschaft, wird es künftig einfach nicht mehr geben können. Dabei ist soziale Sicherheit (trygghet) in der schwedischen Wohlfahrtskultur ein institutionalisierter und normativ verankerter Basiswert, der sich in Form von ethnischen und ökonomischen Abwertungsprozessen ins Gegenteil verkehren kann, wenn die eigenen Sicherheiten – gefühlt oder tatsächlich – zur Disposition gestellt werden.
Paradox ist, dass sich fast alle Parteien in Schweden, je mehr sich das Aufstiegsversprechen auflöst, noch eifriger um eine imaginäre Mittelschicht bemühen, die angeblich progressiv, zukunftsgewandt und globalisierungsfreundlich sei. Die Partei der liberal-konservativen Moderaten hat sich als „neue Moderate“ gesellschaftspolitisch weitgehend liberalisiert. Nation, Staat und Kirche spielen nicht einmal mehr für die schwedischen Konservativen eine gewichtige Rolle. Und die Sozialdemokraten nennen sich selbstsicher „Zukunftspartei“, um vor allem in den urbanen Zentren wieder mehrheitsfähig zu werden.[3] Alle wollen liberale Mitte sein und wiederholen manisch die Schlagworte der Globalisierung, der Innovation und der Leistung, während in der eigenen Wählerschaft vielfach Abwehrreflexe gegen die Selbstoptimierungszwänge und die Transnationalisierungstendenzen zu finden sind.[4]
Profitiert davon haben vornehmlich die Schwedendemokraten, die das wertkonservative und nationalistische Vakuum weitgehend besetzt haben. Neuere schwedische Studien zeigen, dass die Rechtspopulisten bei der letzten Wahl nicht nur bei den Arbeitern kräftig zulegen konnten, sondern nun auch Zuwächse in den bürgerlichen Mittelschichten zu verbuchen haben – besonders in ländlichen Gegenden.[5] Die Kluft zwischen Stadt und Land, Universalismus und Ethnozentrismus sowie konservativer Vergangenheitsidealisierung und utopischer Zukunftsbeschwörung überlagert zunehmend die bisherigen Konfliktmuster in Schweden.
Besorgniserregend ist aber die Tatsache, dass die etablierten Parteien und Eliten in Schweden fast durchweg mit demokratischer und kultureller Geringschätzung geantwortet haben, ohne sich selbst zu fragen, auf welchem Resonanzboden eine ehemals neofaschistische Partei so gut gedeihen konnte. Diese Ignoranz könnte den Rechtspopulisten zukünftig weiter in die Hände spielen und den Argwohn gegen das angebliche Parteien-Establishment beflügeln.
Die Pegida-Bewegung mag in Schweden erfolglos sein. Als Beispiel, wie man mit Rechtspopulisten umgehen soll, taugt aber auch Schweden nicht. Die leeren Straßen sind auch als Warnzeichen zu deuten.
Jens Gmeiner ist Politikwissenschaftler und war Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er beschäftigt sich vor allem mit den skandinavischen Parteiensystemen. Weitere aktuelle Analysen der Pegida-Bewegung finden sich hier.
[1] Vgl. schriftliche Mitteilung von Poohl, Daniel, 04.03.2015.
[2] Vgl. Andersson, Jenny: När framtiden redan hänt. Socialdemokratin och folkhemsnostalgin, Stockholm 2009.
[3] Vgl. Gmeiner, Jens: Die Zukunftspartei Schwedens? Die Schwedische Sozialdemokratie zwischen erfolgreicher Vergangenheit und unsicherer Zukunft, in: Internationale Politikfeldanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2013.
[4] Vgl. Gmeiner, Jens: Turbulenzen im Volksheim: Schweden vor der Wahl, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2014, S. 21-24.
[5] Vgl. Cwejman, Adam/Santesson, Peter: „Tidigare moderater är basen i Sd:s nya väljarkår“, in: Dagens Nyheter, 18.11.2014.