Österreichs eigenartige Karambolage von Tradition und Modernität

[analysiert]: Robert Lorenz über die Eigenheiten der österreichischen Gesellschaft.

Schenkt man den Befunden einiger Beobachter und Interpreten, die dem Zustand von Österreichs Politik und Gesellschaft gelten, Glauben, so fragt man sich unweigerlich, warum die Stimmung dort so auffallend pessimistisch, ja übellaunig ist. Ferner fallen zwei weitere Dinge auf: Erstens erscheint die österreichische Zivilgesellschaft im Vergleich mit Deutschland, vor allem aber mit den Niederlanden unterentwickelt – jahrzehntelang prägte das Land z.B. eine fast schon groteske Konfliktarmut, in der sich die jährliche Streikdauer in Sekunden angeben ließ. Überspitzt dargestellt, gipfelte die konsequente Protestvermeidung und Initiativlosigkeit in der anfänglichen Angst der völlig konfliktentwöhnten Arbeitnehmer, ihre Teilnahme am Streik (2003) werde sie womöglich den Arbeitsplatz kosten oder gar ins Gefängnis bringen. Und zweitens scheint die Lagermentalität auch heute noch bedeutender zu sein als in anderen Gesellschaften, die wie Deutschland und die Niederlande einstmals von durchorganisierten Milieus geprägt waren. Wie aber lassen sich diese Eigentümlichkeiten erklären – und warum echauffieren sich viele Österreicher eigentlich so gerne über die Verhältnisse, in denen sie doch vergleichsweise annehmlich leben?

Zunächst: Im Unterschied zu anderen Ländern der EU hat sich Österreich in den letzten dreißig bis vierzig Jahren nur vermeintlich gewandelt. Zwar erfolgte auch dort ähnlich wie in anderen westlichen Industriestaaten in den 1960er Jahren ein mentaler und lebensweltlicher Aufbruch in die Dienstleistungs-, Konsum- und Mittelstandsgesellschaft, schwächten sich die wirkungsmächtigen „Lager“ mit dem Ergebnis schwindender Stammwählerschaften und treuer Organisationsmitglieder ab. Im Sinne von „Widerrufbarkeit und zeitliche[r] Befristung persönlicher Verpflichtungen“[1] vollzogen sich – soziologisch ausgedrückt – Individualisierung und Wertewandel; d.h. die Bereitschaft der Menschen, sich den Zwängen von Organisationen und einer rigiden Sozialmoral zu beugen, hat – nicht zuletzt aufgrund der Segnungen des expandierenden Bildungs- und Wohlfahrtssystems – drastisch abgenommen. Gestiegenes Selbstbewusstsein und vermehrtes Autonomiestreben drückten sich z.B. in den Scheidungsraten und unehelichen Geburten aus.[2]

Überdies wurde die Gesellschaft insgesamt hinsichtlich der Lebenswelten ihrer Bürger heterogener, pluraler, komplexer. Außerdem veränderte der österreichische Arbeitsmarkt zwischen 1970 und 2000 seine Gestalt: Erstens wuchs die Zahl jener, die mit ihrem Erwerbseinkommen nicht mehr ihren Alltag bestreiten können – so vermehrte sich die Gruppe armutsgefährdeter Österreicher zwischen 1999 und 2006 von 876.000 auf 1.027.000. Zweitens verschob sich die Beschäftigung strukturell von Landwirtschaft und Industrie in den Dienstleistungsbereich. Drittens stieg zwischen 1970 und 2000 die Zahl von Erwerbspersonen von 3,1 (42 Prozent der Bevölkerung) auf 3,8 Millionen (47 Prozent) merklich an. Und viertens wurden die Menschen gebildeter, dadurch selbstbewusster und anspruchsvoller: So wuchs bspw. der Anteil von Maturanten eines Altersjahrgangs zwischen 1980 und 2005 um fast zwanzig Prozent, von 27.000 auf fast 40.000 Schüler.

In Wirklichkeit war dieser offenbar beträchtliche Wandel in Richtung einer postindustriellen Wissensgesellschaft jedoch erstaunlich geringfügig. Zumindest im Vergleich mit anderen Ländern lassen sich ein hartnäckiges Fortbestehen überkommener Muster, eine bemerkenswert beständige politische Kultur ausmachen. Allem Wandel zum Trotz scheint die Lagermentalität in Österreich nicht verschwunden zu sein, sind dortzulande Gewerkschaften und Parteien offenbar noch eher als in anderen Staaten in der Lage, als ideologische Identifikationsspender zu fungieren. „Wer hierzulande eine Reifenpanne hat“, so beschreibt es süffisant ein NZZ-Korrespondent, „muss scharf nachdenken, ob er sein Auto dem sozialdemokratischen ARBÖ oder dem bürgerlichen ÖAMTC anvertrauen will. Noch sorgfältiger muss abwägen, wer den Österreicher begrüßt: mit einem katholisch-bürgerlichen ‚Grüß Gott!‘ oder einem proletarisch-agnostischen ‚Guten Tag!‘. Denn die Grußformel signalisiert: Ich gehöre zu euch. Oder das Gegenteil: Mit euch will ich nichts zu tun haben.“[3] Die Organisationsgrade der Volksparteien und Gewerkschaften als politische Repräsentanten unterschiedlicher Lagerkulturen sind nicht zufällig noch vergleichsweise hoch.

Neben der fortlebenden Lagermentalität überrascht eine kuriose Kombination aus Autoritätsgläubigkeit und Autoritätskritik. Diese paradoxe Gleichzeitigkeit ist anscheinend noch immer ein Spezifikum der österreichischen Gesellschaft. Im Unterschied zu den meisten westlichen Demokratien kennzeichne Österreich, so konstatieren es jedenfalls allerorten soziologische Beobachtungen, eine autoritätsliebende, ja manchmal obrigkeitsergebene Mentalität. Gleich, ob diese aus dem Kaiserreich überliefert ist, seien österreichische Bürger an Obhut und Entmündigung gewöhnt, woraus sich ein ständiges Nebeneinander von konformem Handeln und divergentem Denken ergebe. Denn einerseits gewöhnten sich die Österreicher z.B. daran, die Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft einem männerbündischen Patriarchat zu überlassen. Etatismus und Klientelismus gelten daher als traditionelle Bestandteile der politischen Kultur und begünstigten offenkundig das Konkordanzsystem, in welchem eine kleine Gruppe elitär und informell politisch weitreichende Absprachen und Entscheidungen traf. Andererseits ergehen sich viele Bürger in einem ständigen Nörgeln und Jammern – offenkundig finden sie darin ein bequemes Ventil. Daraus erwuchs eine larmoyante Gesellschaft, deren Angehörige sich zumeist schlechter fühlen, als es ihnen eigentlich geht. Diese chronische Unzufriedenheit hat jedoch nicht verhindert, dass die meisten Wähler am Wahltag dennoch einer der beiden Volksparteien ihre Stimme geben und viele ihnen auch als Mitglieder angehören – ebenso wie den Gewerkschaften.

Wiener Gasometer, Foto: R. Lorenz: Treffen von Modernität und Tradition

Überdies scheinen die soziografischen Veränderungen, die über Westeuropa hinwegfegten, Österreich in manchen Belangen nur gestreift und den ländlichen Charakter wie auch die Traditionslastigkeit kaum vermindert zu haben. Während alle Welt von der Globalisierung und schnellen Rhythmen technologischen und ökonomischen Wandels gepackt wurde, schien in Österreich traditionell alles etwas geruhsamer, gleichsam „mit Gletschergeschwindigkeit“[4] zuzugehen. Die Urbanisierung ist dort deutlich langsamer fortgeschritten als in vergleichbaren Staaten. So leben selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch weniger als vierzig Prozent der Landeseinwohner in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern; Urbanität, großstädtisches Lebensgefühl und kosmopolitische Offenheit, ist in Österreich infolgedessen bislang nicht ganz so einschneidend wie in anderen Ländern gewesen. Es gibt dort nur wenige Ballungszentren, hingegen viele Dialekte und mehrfache landsmannschaftliche Verbundenheit, vor allem etliche kleine, jeweils verschiedene Lebenswelt- und Ethnos-Milieus. Noch sind „das Dorf, die Heimat, der Wald, das Feld, die Flur“[5] mentale Ankerpunkte. Selbst Wien – wo zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung leben – ist in seinem urbanen Niveau nur bedingt mit anderen europäischen Metropolen vergleichbar, sei es doch eine „Ansammlung von Kleinstädten und historisch gewachsenen Grätzeln“[6]. Wien bietet viele Mikrokosmen, ermöglicht inmitten einer Großstadt das Provinziell-Dörfliche: Einzelne Bezirke haben das Profil einer Kleinstadt, die man nicht zu verlassen braucht.

Wandel gibt es jedoch in einem Punkt: Ein großer Teil der Bevölkerung vertraut im Gegensatz zu früher kaum mehr in die Problemlösungsfähigkeit politischer Eliten und Großorganisationen. Dies hat wiederum mehrere Ursachen: Erstens sind einige disziplinierende Klammern weggefallen, darunter der Konsens des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, das zertrümmerte Land in einem gemeinsamen Kraftakt „wieder hochzubringen“[7]; die Geltungskraft sozialmoralischer Gebote des jeweiligen Lagers hat sich abgeschwächt; nach der kollektiven Wohlstandserfahrung infolge einer bis in die 1970er Jahre boomenden Wirtschaft mit beschäftigungsspendenden Staatsbetrieben wie der VOEST oder den ÖBB hatten es die Großorganisationen nicht mehr mit einer Klientel zu tun, die im Bewusstsein ständigen Aufstiegs und kontinuierlicher Verbesserung aufgewachsen war, sondern mit verunsicherten Jahrgängen der 1980er und 1990er Jahre, die Massenentlassungen im Zuge von Privatisierungen erlebten und von biografischem Anbeginn mit steigender Erwerbslosigkeit und ungewisser Stabilität der Wirtschaft konfrontiert waren. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen verdoppelte sich zwischen 2000 und 2005; in trügerischer Erwartung erwarben viele Jugendliche in den 1980er Jahren eine unpassende Qualifikation und trafen auf einen Arbeitsmarkt, auf dem sie im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern deutlich schlechtere Beschäftigungschancen vorfanden. Vermutlich schrumpfte bspw. die Gewerkschaftsjugend wohl auch deshalb zwischen 1980 und 2000 von rund 97.000 auf rund 51.000 um beinahe fünfzig Prozent.

Auch das Verschwinden der Partei- und Gewerkschaftspresse steigerte im Verbund mit einer medialen Berichterstattungslogik – die inszenierte Konflikte goutierte und die mühsame Kompromissfindung in langweiligen Gremien vernachlässigte, das politische Geschehen dadurch jedoch oftmals vereinfacht und skandalös darstellte – die Politikverdrossenheit. Überdies empfinden viele Österreicher die politischen Resultate als mangelhaft, sehen das Geld in ihren Portemonnaies schwinden und wähnen sich unter einer schwer erträglichen Last von Sozialabgaben, unsicheren Arbeitsplätzen und einer unzuverlässigen Sozialversicherung. Dass sich in der Politik überwiegend Menschen tummeln, die selten die Wahrheit sagen und allerhöchstens hart arbeiten, insofern es um ihre persönliche Vorteilsnahme geht, ist ein weitverbreitetes Stereotyp. Fast nirgendwo sonst ist das Misstrauen in Berufspolitiker und die allgegenwärtigen Reformen so groß wie in der Alpenrepublik. Die wachsende Furcht vor zukünftiger Verwundbarkeit beeinträchtigt die in der Gegenwart empfundene Lebensqualität. Dass Österreich im Übrigen auch trotz einer langanhaltenden Wirtschaftskrise eines der wohlhabendsten Länder der Erde blieb, verhinderte jedenfalls nicht den Reputationsverlust der Politik, in welcher die Bürger, aber auch die Kommentatoren zunehmend ein mutmaßlich hochbezahltes Refugium für Überprivilegierte und Unfähige vermuten. Während Beobachter im Ausland von Österreich als „Erfolgsmodell“ schwärmten, wuchs dort der Missmut.

Indem sie die Performance der Politik anhand der Folie einer z.T. verklärten Vergangenheit beurteilen, als Österreich noch die „Insel der Seligen“ und Bruno Kreisky deren Kanzler war, und in den Nachrichten Hiobsbotschaften wie vom bevorstehenden Kollaps der Sozialversicherungskasse oder vom drohenden Untergang der EU vernehmen, können sich viele Österreicher freilich immer wieder in ihrer Skepsis bestätigt fühlen. Vermutlich geht es einfach hinreichend vielen Österreichern materiell und perspektivisch zu gut, als dass sie ihre gewohnheitsmäßige Politik- und Elitenschelte in wahrhaftigen Protest- und Partizipationselan einer lebendigen Zivilgesellschaft verwandeln.

Dr. Robert Lorenz ist wiss. Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. In Kürze erscheint von ihm bei Nomos „Der ÖGB. Zur Geschichte und Zukunft österreichischer Gewerkschaften“.

 


[1] Behr, Michael: Regressive Gemeinschaft oder zivile Vergemeinschaftung? Ein Konzept zum Verständnis posttraditionaler Formen betrieblicher Sozialintegration, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 24 (1995) H. 5, S. 325-344, hier S. 332.

[2] In Vorarlberg z.B. betrug die Scheidungsrate bis zur Mitte der 1960er Jahre ungefähr zehn Prozent, Mitte der 1980er Jahre lag sie bei dreißig Prozent, ein weiteres Jahrzehnt darauf bei vierzig Prozent; vgl. dazu Helfer, Peter: Bevölkerungsentwicklung, in: Mathis, Franz/Weber, Wolfgang (Hrsg.): Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 27-74, hier S. 33-40.

[3] Ritterband, Charles E.: Dem Österreichischen auf der Spur. Expeditionen eines NZZ-Korrespondenten, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 116.

[4] Bender, Klaus W.: In Österreich zeigt sich die Wirtschaftslage unerfreulich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.1996.

[5] Moser, Christian: Skizzen einer geistigen Urbanisierung, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2004 (2005), S. 755-768, hier S. 759.

[6] Ebd., S. 760.

[7] Zitiert nach Klenner, Fritz: Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und Gegenwartsprobleme. Dritter Band, Wien 1979.