[analysiert]: Jöran Klatt über Politik und Ideologie im Computerspiel Anno 2070
Mit dem Computerspiel Anno 2070 hat Ubisoft nicht nur eine Wirtschaftssimulation programmiert, die ökonomisches Denken fordert, sondern auch ein Kunstwerk geschaffen, das (gewollt oder ungewollt) eine Metaphorik auf die krisengebeutelte Gegenwart ist. Anno 2070 offenbart durch seine Spielmechanik das problematische Verhältnis zwischen Ökologie bzw. Nachhaltigkeit und Wirtschaft, zudem demonstriert es die Schwierigkeiten einer sogenannten Post-Wachstumsökonomie.
Computerspiele unterscheiden sich – ähnlich wie beim Film z.B. zwischen Western und Horrorstreifen zu trennen ist – nach Genres. Da gibt es etwa die Shooter, in denen meist Geschicklichkeit und Schnelligkeit gefordert sind, Strategiespiele, die (wie der Name impliziert) vor allem strategisches Denken voraussetzen und viele mehr. Diese Genres sind dabei stets im Wandel und oft auch nicht klar voneinander abzugrenzen. Und doch gibt es seit Jahren und Jahrzehnten etablierte Klassiker, die mehr oder weniger als distinkt beschrieben werden können: so etwa jenes Computerspiel-Genre der Wirtschaftssimulationen. In solchen Simulationen geht es darum, Wirtschaftssysteme oder gar ganze Gesellschaften zu planen und zu entwickeln. Dazu gehört die in Österreich und Deutschland erfundene und seit Jahren erfolgreiche Anno-Serie.
Im aktuellen Teil der Serie, Anno 2070, verlagert der Entwickler Ubisoft das Szenario aus einem historischen in einen futuristisch-dystopischen Kontext. Im Jahr 2070 hat der von Menschen verursachte Klimawandel den Meeresspiegel ansteigen lassen, alte Landmassen sind untergegangen. Es geht nun darum, serientypisch neue Landstriche zu kolonisieren. Dabei haben Nationalstaaten an Relevanz eingebüßt. Das entscheidende distinktions- und identitätsstiftende Moment ist der Lifestyle geworden.
In Anno 2070 werden die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen somit nicht mehr nach Nationen oder Völkern unterteilt, sondern nach diesen Lebensstilen differenziert. Wir können wählen zwischen den Ecos, deren Technologie und Wirtschaftskreisläufe auf Nachhaltigkeit und Ökologie ausgerichtet sind, den Tycoons, die auf schnelles Wachstum und Industrie setzen, und den Techs, die auf technologischen Fortschritt ausgerichtet sind. Zunächst müssen wir uns für eine der beiden ersten Fraktionen entscheiden. Mit dieser Wahl entscheiden wir uns auch für deren spezielle Infrastruktur, wie Gebäudetypen, Transport- und Militäreinheiten sowie natürlich für eine Bevölkerung mit ihren spezifischen, langsam steigenden Bedürfnissen. Und je nachdem, welche Bevölkerung wir ansiedeln, entscheiden wir uns auch für eine spezifische Art des Wirtschaftens.
Und doch gehen wir mit der Entscheidung für eine der Fraktionen keine feste Bindung ein: Egal, ob wir die Ecos oder Tycoons gewählt haben, nach Kurzem können – und müssen! – wir auf jeden Fall auch die Techs ansiedeln, die einen „dritten Weg“ zwischen den beiden Fraktionen darzustellen scheinen. Doch das Spiel geht weiter. Wo in Aufbauspielen einst die Wahl für eine bestimmte Fraktion auch eine klare und unwiderrufliche Entscheidung für deren homogene Identität war, die sich etwa in einheitlichen Gebäudetypen und Bevölkerungsbedürfnissen ausdrückte, zwängt uns Anno 2070 keine solche ideologische Bindung auf: Wir können verschiedene Arten des Wirtschaftens kombinieren. Ein Faktor von äußerst metaphorischem Gehalt.
Bei der Interpretation eines Computerspiels ist es nicht nur der, wenn man so will, narrative Inhalt (also die Geschichte einer Zukunftsvision), den es zu analysieren gilt, sondern ein Großteil des Deutungspotentials der Spiele liegt (vor allem für die Community der SpielerInnen, die so etwas in Foren und Fachzeitschriften viel diskutieren) in der Logik des spielinternen Regelwerkes. Insider sprechen hier vom Gameplay, das zunächst Teil des Erlebnisses, aber auch Teil der vermittelten Erkenntnis und damit der Botschaft eines Spiels ist. Das Gameplay ist eine Art spielinterne Architektur der interaktiven Möglichkeiten. Die Art und Weise etwa wie Fraktionen in Vor- und Nachteilen gegeneinander ausbalanciert sind, die unterschiedlichen zu bewältigenden Herausforderungen und die verschiedenen Schwierigkeitsgrade, die multiple Wege zum Ziel haben – all dies prägt nicht nur das Spielerlebnis, sondern ist ein dem Medium Computerspiel genuines Element kultureller und künstlerischer Aussagekraft.
Um das politisch-didaktische oder sozialkritische Potential des Spiels zu erkennen, spielen wir eine sogenannte Endlos-Partie Anno 2070. Endlos-Partie bedeutet, dass wir uns nicht in die narrativ vorgegebene lineare Kampagne begeben, sondern ein Freispiel ohne genau festgelegtes Spielziel anspielen: Zunächst gehen wir dem scheinbar logischsten Schritt, den uns das Szenario vorgibt. Wir blicken einem von Menschen verursachten Klimawandel entgegen, geschaffen durch Technologie und Wachstumsökonomie – da scheint die Wahl der Ecos naheliegend.[1] Wir siedeln also zunächst auf einer kleinen Insel einige Ecos an. Das Wirtschaftssystem, die Technologie der Ecos und auch ihre Ansprüche sind darauf ausgelegt, mit der vorgefundenen Natur zu harmonieren. Vereinzelte Industriezweige, die wir errichten, lassen die Ökobilanz sinken und wir müssen dies ausgleichen, indem wir Wetterkontrollanlagen installieren, Baumschulen, Windkrafträder und Blockheizkraftwerke bauen. Schnell haben wir auf der Insel eine kleine Gemeinschaft geschaffen, die prosperiert und in sich funktioniert. Die Ansprüche der Bevölkerung steigen. Noch gibt es jedoch keine Forderungen, die wir nicht auch mit Eco-Gebäuden und mit Eco-Wirtschaftskreisläufen erfüllen könnten. Ecos verlangen keinen Kaffee, sondern Tee. Die Lifestyles unterscheiden sich im Konsumverhalten, aber auch in den favorisierten Freizeitaktivitäten: Während die Tycoons nach Spielhallen und medialen Entertainmentanlagen verlangen, sind die Ecos klassisch bürgerlich an Konzerthallen interessiert.
An dieser Stelle des Endlos-Spiels könnten wir aufhören. Wäre da nicht die explorative Neugier, die SpielerInnen dazu antreibt, alle Facetten eines Spiels einmal erlebt, alles einmal ausprobiert zu haben. Und wäre da nicht eine grundlegende Eigenschaft wahrscheinlich aller Computerspiele, die zu den Aufbau- und Wirtschaftssimulationen gehören, die zugleich Ausdruck eines bestimmten ökonomischen Leitparadigmas ist: Expandiere oder gehe unter!
Ein Spiel wie Anno 2070 könnte durchaus normativ-didaktisch sein. Es könnte die Welt und die Wirtschaft der Ecos funktionieren lassen und die Ressourcen-Ausbeutung der Tycoons bereits in der Anlage als zum Scheitern verurteilt programmieren. Doch das Spiel belässt es nicht bei einer derartigen Eindimensionalität. Es ist subtiler – und verführt uns letztendlich doch dazu, die ökologische Moral, für die wir uns entschieden haben, beiseite zu legen und das Paradigma der Ecos zu verlassen.
Spätestens dann, wenn wir alle Technologien der Ecos erforscht haben und einen mehr oder weniger großen Eco-Wirtschaftskreislauf errichtet haben, kommen neue Herausforderungen auf uns zu: Militärische Konflikte, Piraterie, andere Fraktionen, die andere Wirtschaftssysteme errichten. Irgendwann – uns zunächst gar nicht bewusst – kommt der Moment, in dem wir Verwendung für eine Ressource haben, die in der Spielwelt der Ecos eigentlich keine Bedeutung zu haben schien. Irgendwann kommt ein Problem hinzu, das wir nicht mehr alleine durch Einsatz von Eco-Technologie lösen können.
Also greifen wir zu anderen Technologien, errichten andere Wirtschaftskreisläufe. Doch mit den neuen Technologien kommen auch andere Lebensstile hinzu. Wir siedeln Techs an, bauen neue Appartements, schaffen Laboratorien für sie, brauchen mehr Energie. Irgendwann reichen auch unsere Windkrafträder und Blockkraftwerke nicht mehr aus. Wir brauchen Gezeiten- und gar Kohlekraftwerke und benötigen mehr Rohstoffe, die wir nun auch von Tycoons erwerben. Diese wiederum erweitern mit dem so verdienten Geld ihre Wirtschaftskreisläufe, bauen sie aus. Wir werden abhängiger vom Handel, mit dem Versiegen einer Ressource bleibt uns nur das Erschließen neuer Quellen und oft legt ein einziger Warenengpass unseren gesamten Wirtschaftskreislauf lahm. Letztendlich erwerben wir Technologien der Tycoons, bauen eigene Fabriken auf und versuchen, einen Ausgleich zu schaffen zwischen einer Gesellschaft, die auf Nachhaltigkeit setzt, und einer, die auf Wachstum basiert.
Dabei hätten wir ab einem gewissen Punkt ja aufhören können. Es gibt schließlich kein vorgegebenes Ziel im Endlos-Spiel. Niemand zwang uns weiterzumachen, weiterzubauen, zu expandieren und die im Spiel vorhandenen Ressourcen und Waren, für die sich die eigene Bevölkerung nicht zwingend interessierte, abzubauen, anzubauen oder herzustellen und sie und jene, die sie sich wünschten, Teil unserer Gesellschaft werden zu lassen. Anno 2070 lässt einem die Wahl: Homogenität oder Hybridität.
Das Spiel verführt uns gekonnt zu einem Micromanagement, es lässt uns Verwalter eines Apparats voller Optionen werden. Der jeweils nächste Schritt in Anno 2070 tarnt sich häufig als vermeintlich objektiv lösbares Problem. Ein wenig ähnelt es der Klage des Ökonomen Rudolf Hickel über das Studium der BWL: Wir werden zu den ausführenden Organen eines Paradigmas, das wir nicht mehr mitreflektierten. Aus einer makroökonomischen Perspektive gestartet (mit der ersten, großen Wahl für Ecos oder Tycoons, Nachhaltigkeit oder Wachstum), verführt uns das Spiel permanent dazu, die Regeln unseres Systems zu dehnen, gar zu brechen. Wir werden doch nur noch zu postideologischen Verwaltern, Technokraten: Wir erliegen einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit, dass es in solchen Spielen immer um Wachstum und Hegemonie, um Dominanz und Progression und vor allem um vermeintlich logische Entscheidungen geht. Letzteres ist wohl die entscheidende Parallele zu einer nach wie vor vorherrschenden ökonomischen Leitlinie.
Endlos-Spiele in Wirtschaftssimulationen sind somit wohl eine passende Allegorie auf die globalisierte Weltwirtschaft. Sie folgen keiner offensichtlichen Teleologie, keinem wirklichen Ziel, sie folgen nur der inneren Logik des Wachstums und des Ausgleichs, sind damit durchaus kritische Kulturgüter, die einen aktuellen Zeitgeist kommentieren. Anno 2070 zeigt uns die scheinbare Vielfalt der Möglichkeiten gesellschaftlicher Hybridität, kurz: die Tücken der post-ideologischen Utopie.
Jöran Klatt arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Das sieht offensichtlich ein Großteil der Anno-Community ähnlich. Innerhalb der Benutzeroberfläche des Spiels gibt es eine Option, die Community über eine der drei Fraktionen in regelmäßigen Abständen online in einem globalen Senat abstimmen zu lassen. Diese Wahl hat Einfluss auf spielinterne Szenarien, die immer wieder neu hinzugefügt werden. Die Abstimmung unter den registrierten SpielerInnen hat zum Zeitpunkt, an dem dieser Artikel entstanden ist, eine über 60%ige Präferenz für die Ecos im Anno-2070 ergeben.