Der illiberale politische und gesellschaftliche Kurs der neuen polnischen Regierung hat die deutsche und europäische Öffentlichkeit bestürzt. Binnen weniger Monate hat sich Polen von einem Musterbeispiel der europäischen Integration zu einem Rebellen entwickelt, der die Grundwerte der EU – insbesondere Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus – infrage stellt und für eine Umgestaltung des europäischen Projektes gemäß der Vision eines Europas souveräner Staaten wirbt. Die Nationalisierung der öffentlich-rechtlichen Medien, die diese zum Sprachohr der Regierung macht, die praktische Entmachtung des Verfassungsgerichts und eine Reihe weiterer, unter zweifelhaften Umständen verabschiedeter Gesetze und Reformen ließen die Alarmglocken bei der europäischen und transatlantischen Gemeinschaft läuten. Infolgedessen wurden – erstmals in der Geschichte der europäischen Integration – von der Europäischen Kommission erste konkretere Schritte zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit eines EU-Mitglieds angestrengt.
Gleichzeitig verdeutlichen proeuropäische Bekundungen aus der polnischen Zivilgesellschaft, die tausende von Menschen auf den Straßen zu mobilisieren vermochte, dass die Entscheidungen der nationalkonservativen, rechtspopulistischen Regierung nicht widerspruchslos hingenommen werden. Dennoch hält die polnische Regierung unvermindert an ihrem Kurs fest, lässt sich von ihrem geradezu revolutionären Reformweg kaum abbringen.
Dabei ist der polnische Kurswechsel nur die Spitze des (ost- und mitteleuropäischen) Eisberges. Ist auch Ungarn unter Viktor Orbán bereits in Richtung „illiberale Demokratie“ abgedriftet, sind ähnliche politische aber auch wirtschaftliche Fehlentwicklungen in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, kurz: MOE-Ländern, zu beobachten. In Tschechien und der Slowakei machen sich populistische Tendenzen breit, Bulgarien und Rumänien scheinen im Kampf gegen die Korruption machtlos. Dies sind allesamt Entwicklungen, die Stimmen laut werden ließen, wonach sich die Europäische Gemeinschaft durch die EU-Osterweiterung mehr Probleme ins Haus geholt habe, als sie verkraften könne. Und auch und gerade die Entwicklung in Polen nährt diese Zweifel. Ist Polen in dieser Denkweise also für Europa verloren? Dieser Frage soll in fünf Thesen nachgegangen werden, die das Gegenteil beweisen könnten und dennoch zugleich auf die enorme Komplexität der polnischen Selbstbehauptung hindeuten.
These 1: Der rechtskonservative Ruck aus gutem Grund, Zufall und Glück.
Der Sieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)[1] bei den Parlamentswahlen im November 2015 war alles andere als überraschend. Bereits seit Monaten, wenn nicht Jahren, zeichnete sich ab, dass die seit 2007 regierende Koalition aus liberalkonservativer Bürgerplattform (PO) und Bauernpartei (PSL) abgewählt würde, dass ein Machtwechsel bevorstünde. Doch dass die PiS es schaffte, sich mit nur 37,5 Prozent der Stimmen die parlamentarische Mehrheit im Sejm zu sichern und in der Folge die Regierung allein zu stellen, war schon eine Sensation.[2] Ebenfalls überraschend hatte sich bereits einige Monate zuvor der bis dato ziemlich unbekannte PiS-Kandidat Andrzej Duda gegen den bisherigen Präsidenten Bronisław Komorowski durchgesetzt, was den Erfolg der nationalkonservativen PiS und die Niederlage der liberalkonservativen PO nur mehr verstärkte. Mit dem Präsidenten an der Spitze, Beata Szydło als Regierungschefin und Jarosław Kaczyński als im Hintergrund alle Stricke in der Hand haltendem Parteivorsitzenden[3] übernahm die PiS das politische Zepter in Polen – und machte sich, ausgestattet mit dieser Machtfülle, ans Werk.
Die Gründe für die Abwahl der PO-PSL-Koalition und die Wahl der PiS sind seither aus verschiedenen Perspektiven vielfältig beleuchtet und umfassend analysiert worden. Politische und wissenschaftliche Analyse sind sich zumeist dahingehend einig, dass eine Kombination von innenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren ursächlich für den Ausgang der Wahlen im Jahr 2015 war. Dabei spielten, neben handwerklichen Fehlern und neoliberalen Fehlentscheidungen der vergangenen Regierung, die Spaltung der politischen Landschaft sowie eine polarisierende, auf die Würde einer Nation hinweisende Rhetorik der PiS eine zentrale Rolle.[4] Der PiS ist gelungen, ihre Wählerschaft zu überzeugen, dass trotz der positiven Wirtschaftszahlen und optimistischen Entwicklungsprognosen das Land einer „Ruine“ gleiche, die von den Vorgängern ausgebeutet worden sei. Ein „guter Wechsel“ (dobra zmiana), also eine Mischung aus nationalkonservativer Ideologie und sozialistischen Lösungen, sollte dem Land und deren Bevölkerung anstelle dessen zugutekommen.
Ferner spielte die Zuspitzung der Flüchtlings- und Migrationskrise ausgerechnet im Sommer und Herbst 2015 eine große Rolle. Bilder von den Menschenströmen auf der Balkan-Route und die Belagerung des Budapester Bahnhofs lösten, politisch verstärkt, in der Gesellschaft Angst, Unsicherheit und das Gefühl des Bedrohtseins aus. Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge zu öffnen, wurde hierfür von den rechten Parteien nicht nur als kontroverser europapolitischer Alleingang der deutschen Bundesregierung und somit als Verletzung der europäischen Solidarität verhandelt, sondern, weitergehend, als akute Bedrohung der europäischen Sicherheitslage zugespitzt, die letztlich eine „Islamisierung des christlichen Abendlandes“ mit sich bringe. Der regierenden PO-PSL-Koalition wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, sich dem deutschen Diktat gefügt und das Wohlergehen des eigenen Volkes vernachlässigt zu haben.[5]
Ein weiterer Faktor für den Erfolg der PiS liegt im Wahlausgang selbst, der eine für die PiS äußerst glückliche Wendung genommen hatte: Da 16,9 Prozent der Stimmen auf Parteien oder Wahlbündnisse entfielen, welche die Sperrklausel nicht übersprangen, reichte der PiS zwar ein gutes, von einer absoluten Mehrheit aber noch weit entferntes Ergebnis, um nach Sitzen die absolute Mehrheit zu erringen. Neben dem Umstand, dass fast die Hälfte der Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen hatten, war es also ausgerechnet der Misserfolg der schwächsten Parteien, welcher der PiS eine absolute Mehrheit im Parlament sicherte.
Lesen Sie die vier weiteren Thesen über die Entwicklung Polens in der aktuellen Ausgabe von INDES.
Die nun folgenden fünf Reflexionen helfen, den Diskurs über Polen, Europa und Identität zu vervollständigen:
Erstens: Die Sicherung der absoluten parlamentarischen Mehrheit durch die rechtskonservative Regierung in Warschau und der darauffolgende Systemumbau in Polen verdeutlichen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zwar den Kern der europäischen Integration ausmachen, doch gemeinsame Werte keine Selbstverständlichkeit sind. Vielmehr können sie bei günstigem Wind für politische Zwecke instrumentalisiert und missbraucht werden.
Zweitens: Um die liberale Demokratie in Europa zu erhalten, muss die Europäische Union zu einem normativen Diskurs zurückkehren – jedoch nicht, um die Grundlagen des Zusammenlebens neu zu definieren, sondern um die Unstrittigkeit der gemeinsamen Werte zu bestätigen.
Drittens: Die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedern ist nicht mehr die Ursprungsgemeinschaft von sechs Gründungsstaaten, die aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges und im Schatten des Kalten Krieges entstanden ist. Mit jeder Erweiterung verändern sich Machtverteilung, Handlungsspielräume sowie wirtschaftspolitische und sozioökonomische Interessen. Diese Veränderungen müssen von allen Seiten ernst genommen werden, um den Erfolg der europäischen Integration im 21. Jahrhundert zu sichern und fortsetzen zu können.
Viertens: In diesem Zusammenhang dürfen auch soziokulturelle Unterschiede, Dämonen der Vergangenheit und Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten nicht auf die leichte Schulter einer top-down geführten Europäisierung genommen werden – insbesondere bei Herausforderungen, die den Zusammenhalt von Gesellschaften gefährden können.
Fünftens: Proeuropäische Bekundungen und Aktionen sind wichtig, um eine positive Botschaft gegenüber den europaskeptischen und illiberalen Trends zu setzen. Dennoch bedarf es einer unabhängigen, generationsübergreifenden, kompetenzerweiternden politischen Bildung, um die europäischen Werte und Prinzipien dauerhaft im Bewusstsein und Handeln der Menschen zu verankern. Sie füllt die Lücken dort, wo schulische Bildung es nicht schafft. Sie erreicht Menschen, die sich längst jenseits des Ausbildungssystems befinden, und sie fördert das Vertrauen zwischen Staat, Gesellschaft und europäischer Gemeinschaft – die Grundlage einer liberalen Demokratie in Europa.
Dr. Weronika Priesmeyer-Tkocz, geb. 1979, ist seit 2009 Studienleiterin an der Europäischen Akademie Berlin. Ihren thematischen Schwerpunkt bilden aktuelle Aspekte der europäischen Integration, deutsch-polnische Beziehungen, Demokratisierungs- und Transformationsprozesse mittel- und osteuropäischer Länder, europäische Politik in Richtung Osten sowie Good Governance.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Originalbeitrags, der in der INDES-Ausgabe 2-2017 erschienen ist: Polen, Europäische Union und Identität. Fünf Thesen zu einem Land der Gegensätze.
[1] Eigentlich ist die PiS selbst ein Bündnis, das aus einer großen (PiS) und zwei Satellitenparteien (PR – Rechte der Republik, SP – Solidarisches Polen) besteht.
[2] Im Senat errang sie wegen des Mehrheitswahlrechts sogar 61 Prozent der Mandate.
[3] Zum Phänomen Kaczyński vgl. Staniszkis, Jadwiga: Ein infantiler Autokratismus. Kaczyński, die PiS und Polens Weg nach Osten, in: Osteuropa, H. 1–2/2016, S. 103–108.
[4] Vgl. Hall, Aleksander: Schlechter Wechsel. Polen unter der Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“, Berlin 2016; Sapper, Manfred/Welchsel, Volker (Hrsg.): Gegen die Wand. Konservative Revolution in Polen, Osteuropa, H. 1–2, Berlin 2016.
[5] Vgl. Vetter, Reinhold: Gezeitenwechsel. Polens Rechte erobert die ganze Macht, in: ebd. S. 19–36, hier S. 31 f.