Dass Landtagswahlen Seismographen der bundespolitischen Stimmung sein können, ist ein Allgemeinplatz, der je nach Ergebnis von Wahlsiegern und Unterlegenen gern unterschiedlich interpretiert wird. Dass aber Landtagswahlen dazu in der Lage sind, die politischen Machtverhältnisse grundlegend zu ändern, ist dann doch eher die Ausnahme. Eine, die wohl zuletzt verbunden werden konnte mit dem desaströsen Wahlergebnis der SPD in Nordrhein-Westfalen 2005, in dessen Folge die vorgezogenen Bundestagswahlen das Ende des „rot-grünen Projekts“ besiegelten.
Auch wenn nach der Hessenwahl 2018 eine solche Volte ausblieb, so könnte der daraus folgende schrittweise Abschied Angela Merkels von der Macht in nicht wenigen Jahren als herausragende Zäsur gelten. Schließlich steht nicht nur die Union, sondern die ganze Bundesrepublik gewissermaßen am Scheideweg; einem, der indes nicht über die Wahlnacht hereingebrochen ist, sondern einem, der sich seit Jahren angekündigt hat – dass die AfD nun in allen Landtagen vertreten ist, dass die Verzwergung der Sozialdemokratie unaufhaltsam scheint, dass die Grünen in Umfragen zur Union weiter aufschließen, dass die Union selbst zerrissen ist, wie schon seit Dekaden nicht, all das nahm schon vor einigen Jahren seinen Anfang. Doch lässt sich am Wahlausgang in Hessen, ebenso wie an der Neuausrichtung der CDU, exemplarisch zeigen, was sich unterhalb der nackten Wahlergebnisse verschoben haben mag und wohin die Entwicklung gehen kann.
Grüne Volkspartei?
Keine Frage, die Grünen eilen gerade nicht nur von Umfragerekord zu Umfragerekord, sie lösen die Erwartungen an den Wahlurnen auch weitgehend ein. Deutlich zweistellige Ergebnisse in Bayern und Hessen, in beiden Ländern, wenn auch in Hessen nur mit 94 Stimmen Vorsprung, zweitstärkste Kraft, in bundesweiten Umfragen nur noch wenige Prozentpunkte hinter den Unionsparteien – die Blütenträume einer grünen Volkspartei, sie sprießen wieder, zumindest medial. Dabei rührt die neue Stärke der Grünen ja gerade nicht in dem Versuch, einen inhaltlichen Spagat zu vollführen, um alle Schichten mitzunehmen, sondern auf einer Haltung, die goutiert wird. Das klare Bekenntnis zur offenen Gesellschaft, das wieder deutlicher formulierte Bekenntnis zur Ökologie, das unmissverständliche Verteidigen der europäischen Idee und eine vernunftgeleitet Politik von „Maß und Mitte“[1] begründen den neuerlichen grünen Höhenflug.
Wenn etwa 56 Prozent aller bayerischen und gar 65 Prozent aller hessischen Wählerinnen und Wähler angeben, die Grünen verteidigten „Werte, die mir wichtig sind“, dann wird deutlich, was die Grünen im Jahr 2018, anders als die Öko-Höhenflug-Grünen der Jahre 2010/11, ausmacht.[2] Sie stehen inzwischen offensiv und nicht so verdruckst wie einstmals für jene fundamentalliberalisierte Bundesrepublik, deren Verteidigung in Zeiten des Rechtsrucks vielen Bürgerinnen und Bürgern, allem rechten Trommeln zum Trotz, wichtig erscheint. Nicht mehr die CDU scheint die konservative, die bewahrende Kraft zu sein, sondern mehr und mehr jene Grüne, deren Sommertour 2018 den Titel „Des Glückes Unterpfand“ trug, einer Reise, so Robert Habeck, „zu den Wurzeln der liberalen Demokratie“.[3] Getragen wird dieser Aufstieg zudem von ständig nachwachsenden Wähler-, oder korrekterweise: Wählerinnenstimmen. Keine Partei ist so stark bei jungen, urbanen Frauen in den großen Städten und bei formal Hochgebildeten – allesamt Gruppen, die anders als die CDU-Wählerschaft, in Zeiten von Urbanisierung und Bildungsexpansion weiter wachsen werden.[4] Insofern erscheint der Versuch etwa der CSU, die Grünen aus dem bürgerlichen Lager heraus – und bedenklicherweise die AfD dort hinein- – zurechnen als verzweifelter Versuch, das Trennende hochzuhalten.
Die CDU – Rechtsruck oder weiter so?
Schließlich, für die CDU ist diese Auseinandersetzung mit den Grünen alles andere als neu. Schon im Jahr 2011 versuchte sich die Union mit ähnlicher Rhetorik der Grünen zu erwehren. Unter dem Label CDUpur hofften Stefan Mappus in Baden-Württemberg und Christoph Ahlhaus in Hamburg das Ruder für die CDU herumzureißen. Was sie indes erreichten, war die komfortablen Mehrheiten von Günter Oettinger und Ole von Beust in krachende Niederlagen zu verwandeln – am Ende der Entwicklung stand ein grüner Ministerpräsident, Winfried Kretschmann.[5] Es ist ein in der CDU kaum (noch) gewürdigtes Verdienst Angela Merkels – freilich gepaart mit strategischen Fehlern der Grünen, die überdies nicht in der Lage waren, mit einem nicht sehr geneigten medialen Umfeld umzugehen – diese Entwicklung abgefangen zu haben. Die „Klimakanzlerin“ – die indes mehr Inszenierung denn Realität war[6] –, die die Wehrpflicht abschaffte und die „Ehe für alle“ durchsetzte und die schließlich in der Flüchtlingsfrage zunächst die Humanität obsiegen ließ, sie vermochte es, die Grünen wieder in die Schranken zu weisen.
Doch die ständigen Konzessionen an die Parteirechte und die CSU in Asylrechtsfragen, der Verzicht auf Klimapolitik, die Unfähigkeit, das rechte Trommeln in der eigenen und vor allem in der Schwesterpartei zu unterbinden, nicht zuletzt mit einer Streitkultur, die jegliches Maß, jegliche Mitte in der Fraktionsgemeinschaft verloren hat, führten dazu, dass die Grünen an Zustimmung gewannen und die Parteivorsitzende an Autorität verlor. Die angekündigte Aufgabe des Parteivorsitzes, sie scheint nur die logische Konsequenz dieser häufig so kühl kalkulierenden Politikerin zu sein, die klug genug scheint, ihrer Partei die Möglichkeit zur Neuausrichtung zu geben und dabei, nicht minder klug, darauf verzichtet, einen offenen Fingerzeig zu geben, in welche Richtung es nun gehen soll.
Ganz anders der rechte Parteiflügel, der, der AfD gleich, nur noch ein Ziel kannte: Merkel muss weg! Und schon positionieren sich die Michael Kretschmers und Jens Spahns der Partei, gegen kriminelle Asylbewerber, gegen ein vermeintlich offenes Grenzregime, für eine CDUpur, die ihr Heil in einem verkürzten Abwehrkonservatismus sucht, der indes, dies zeigen etwa die Entwicklungen in Sachsen und die Wählerwanderungen in Bayern und Hessen, nicht etwa die CDU im Kampf gegen die AfD stärkt, sondern die Partei erstens ins Hintertreffen bringt – in Sachsen lag der rechteste Unionslandesverband bei den Bundestagswahlen gar hinter der AfD –, zweitens sie innerlich zerreißt – in Bayern und Hessen verloren die Unionsparteien gleichermaßen an AfD und Grüne – und drittens in eine gesellschaftlich minoritäre Position drängt. Schließlich geben 70 Prozent aller Wählerinnen und Wähler in Bayern und noch 61 Prozent in Hessen an, die CSU bzw. die CDU habe sich „zu sehr auf Flüchtlingspolitik konzentriert und Anderes vernachlässigt“.[7]
Die CDU hat es nun selbst in der Hand, ob die Hessenwahl Zäsur oder Episode bleibt, ob sie akzeptiert, dass Konservatismus nur so lange bremst, bis der Wandel nicht mehr zu ändern ist[8], ob sie die liberale Bundesrepublik noch für verteidigungswürdig hält[9] oder ob sie ernsthaft einen neoliberalen Rollback in die Jahre 2003 bis 2005 wagt – an dessen Ende die Ära Merkel beinahe schon vorbei gewesen wäre, ohne überhaupt begonnen zu haben.[10]
Michael Lühmann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Der Hinweis befindet sich bereits bei Franz Walter, Gelb oder grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 102.
[2] Vgl. die Zahlen bei wahl.tagesschau.de, Landtagswahl 2018. Bayern. Umfragen zu den Grünen, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-14-LT-DE-BY/umfrage-gruene.shtml; dies., Landtagswahl 2018. Hessen. Umfragen zu den Grünen, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-28-LT-DE-HE/umfrage-gruene.shtml [beide eingesehen am 01.11.2018].;
[3] Robert Habeck, Des Glückes Unterpfand – Eine Reise zu den Wurzeln der liberalen Demokratie, URL: http://www.robert-habeck.de/texte/blog/des-gluecks-unterpfand/ [eingesehen am 1.11.2018].
[4] Insbesondere der Wandel der weiblichen Wählerschaft, die noch in den achtziger Jahren eher der CDU zuneigte und heute deutlich den Grünen, ist einer jener langfristigen Prozesse, der unterhalb aktueller Verschiebungen wirksam ist.
[5] Michael Lühmann, Warum die CDU am Ende allein dasteht, in: Cicero online, 07.12.2012, URL: https://www.cicero.de/innenpolitik/warum-die-cdu-am-ende-allein-dasteht/52802 [eingesehen am 01.11.2018].
[6] Das Scheitern Deutschlands an den Klimazielen 2020, die Nichtumsetzung der Elektromobilitätsziele, das Festhalten an der Kohle, das Versagen im Dieselskandal, die Liste der Klimapolitikverweigerung ist lang.
[7] Vgl. die Zahlen bei wahl.tagesschau.de, Landtagswahl 2018. Bayern. Umfragen zur CSU, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-14-LT-DE-BY/umfrage-csu.shtml; dies., Landtagswahl 2018. Hessen. Umfragen zur CDU, URL: http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2018-10-28-LT-DE-HE/umfrage-cdu.shtml [beide eingesehen am 01.11.2018].;
[8] Jörg Scheller, Wer das Gute bewahren will, baut Brücken, die im Wind schwingen, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.10.2018, URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/wer-das-gute-bewahren-will-baut-bruecken-die-im-wind-schwingen-ld.1430263 [eingesehen am 01.11.2018].
[9] Vgl. die Warnung vor einer „Beseitigung der alten BRD“ bei Thomas Assheuer, Endlich ganz und national, in: Zeit online, 31.10.2018, URL: https://www.zeit.de/kultur/2018-10/union-im-wandel-konservative-revolution-alexander-dobrindt-csu-debatte-angela-merkel-cdu [eingesehen am 01.11.2018].
[10] Vgl. Michael Lühmann, Keine Visionen, nirgends, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 28.09.2011, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/keine-visionen-nirgends [eingesehen am 01.11.2018].