Henry Kissinger hat Anfang August 2017 Fachwelt und Politiker wachgerüttelt, als er vor einem radikalen schiitischen „Imperium Iran“ warnte.[1] Der ehemalige US-Außenminister machte den Westen darauf aufmerksam, dass die Mullahs einen territorialen Gürtel von Teheran bis nach Beirut errichten könnten, wenn die Stellungen des geschlagenen IS durch die al-Qods-Brigade (den Auslandsarm der iranischen Revolutionswächter) oder vom Iran unterstützte schiitische Milizen eingenommen würden. In solch einem Fall wären die gefürchteten Revolutionswächter des Iran dicht an Israels Grenzen präsent – ein No-Go für Jerusalem. Eine derartige regionale Expansion des Gottesstaates hätte ein radikal-schiitisch iranisches Imperium zur Folge. Donald Trump dürfe eine solche Entwicklung nicht zulassen, so der 94-jährige Kissinger. Dabei ist Kissingers Warnung in Bezug auf den Iran eigentlich nichts Neues.
Auch in der Wissenschaft mahnten bereits vor einigen Jahren Stimmen, dass es sich beim IS um ein mehr oder minder „temporäres Phänomen“ handeln könne, das vom Blick auf hintergründige, weit gewichtigere Entwicklungen – u.a. Irans weitreichende regionale Einmischungen sowie seine Bestrebung zum Zugang zum Mittelmeer – abzulenken drohe.[2] Seit Jahren machen ranghohe US-Militärs die Islamische Republik Iran, die getrieben von Hass auf Amerika und Israel in allen regionalen Konflikten im Nahen Osten mitmischt, als die strategische Gefahr aus. 2015 hat David Petraeus, ehemaliger Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Irak und Afghanistan, konstatiert, nicht der IS sei das größte Problem der USA, sondern der Iran.[3] Der an der Princeton University in Internationalen Beziehungen promovierte General, der zu den hellsichtigsten US-Militärs gehörte, sah bereits damals voraus: „Wenn Daesh [al Daula al-Islamiyya fi al-Iraq wa al-Sham, arabisches Synonym und Akronym für IS bzw. ISIS = Islamischer Staat im Irak und Syrien] aus dem Irak vertrieben wird und die Folge sein wird, dass die vom Iran unterstützten schiitischen Milizen zur mächtigsten Kraft im Land mutieren – und dabei die irakischen Sicherheitskräfte in den Schatten stellen, wie es die Hisbollah im Libanon tut –, wäre das ein desaströses Ergebnis für die Stabilität und Souveränität des Irak, ganz zu schweigen von unseren eigenen nationalen Interessen in der Region.“[4]
Der Iran ist im Libanon und in Syrien mit der schiitisch-libanesischen Hisbollah-Miliz präsent. Diese verfügt als „Handlanger“ des Iran über etwa 50.000 Kämpfer und 150.000 Raketen unterschiedlicher Reichweite. Rund 10.000 dieser Männer kämpfen mit Rückendeckung der iranischen Al-Qods-Brigade und Russlands in Syrien an der Seite von Bashar Al-Assad. Im Irak hat die schiitische Miliz Hashd al-Sha‘abi – 2014 gegründet – mindestens 100.000 Angehörige; Iran kommt für die Finanzierung, Waffen, Ausbildung und Logistik der Miliz auf. In Jemen riss die ebenfalls vom Iran unterstützte schiitische Huthi-Miliz die Macht an sich. Der Iran unterstützt auch radikale Sunniten. Laut Aussage des Hamas-Chefs im Gazastreifen, Yahya Sinwar, sei Teheran der größte Finanzier und Waffenlieferant der Al-Qassam-Brigaden, des militärischen Arms der palästinensischen Hamas. Die Zusammenarbeit der Mullahs mit den Taliban in Afghanistan ist bereits bewiesen.[5]
Der jordanische König Abdullah II. hat erstmals 2004 nach dem Irakkrieg den Begriff „schiitischer Halbmond“ geprägt. Er meinte, dass der Sturz des Sunniten Saddam Hussein im Irak die Machtübernahme der iran-freundlichen schiitischen Iraker bedeute und dieser Machtzuwachs der Ayatollahs in Teheran sich auch auf Libanon, Syrien, Jemen und Bahrain ausbreite. So würden die arabische Halbinsel und die Region Syrien von einem schiitischen Machtblock eingekreist werden.[6]
Das wäre ein Schreckensszenario für die sunnitisch-konservativen Monarchien am Persischen Golf, darunter Saudi-Arabien, das nun mit dem Schreckgespenst Iran als Vorwand die eigene schiitische Bevölkerung unterdrückt und aus Furcht vor iranischer „Einnahme“ Bahrains und Jemens in diesen beiden Staaten militärisch intervenierte und sehr viel Unheil anrichtete. Saudi-Arabien ist zudem in regionale Stellvertreterkriege mit dem Iran involviert; der Staat setzt nach eigener Erklärung Truppen im Jemen und Bahrain ein, ist auf anderen Schauplätzen aber nicht selbst präsent. Der Iran hingegen setzt eigene Truppen (Revolutionswächter und Militärberater) in Syrien ein und überlässt dortigen Milizen Kriegsgerät. Ein Beispiel für aus dem Iran entsandte Truppen sind die aus afghanischen schiitischen Flüchtlingen und Migranten rekrutierte „Fatemiyun-Brigade“ und die aus pakistanischen Schiiten gebildete „Zeinabiyun-Brigade“. Hinzu kommen Revolutionswächter – hunderte von ihnen sind bereits gefallen.[7] Etwas Vergleichbares ist von anderen Ländern, die direkt und indirekt in den Syrien-Krieg involviert sind, nicht bekannt.
Besonders das Südsyrienabkommen bzw. der Waffenstillstand in Syrien, den US-Präsident Donald Trump und der russische Präsident Wladimir Putin beim G20-Gipfel in Hamburg ausgehandelt haben, beunruhigt Israel. Laut diesem Abkommen gibt es im Wesentlichen drei Deeskalationszonen: eine im Westen Syriens unter russischer Kontrolle, eine im Südwesten unter US-Kontrolle und eine im Nordwesten unter Kontrolle der Türkei.[8] Die russische Kontrollzone grenzt an das Mittelmeer und liegt genau auf der vom Iran angestrebten Mittelmeerroute, die durch den Irak und Syrien verläuft. Obgleich zwischen den Iranern und der israelischen Grenze somit ein etwa 20 Kilometer breiter Zwischenraum liegt, traut Jerusalem Moskau nicht über den Weg. Israel befürchtet, dass Moskaus gute Beziehungen zum Iran dazu führen, dass iranische Revolutionswächter und die Hisbollah sich entlang der jordanischen Grenze breitmachen und den israelischen Grenzen nähern könnten. Sollten sich Israels Befürchtungen bewahrheiten, könnte der Iran seinem Traum – der Errichtung eines Landkorridors bis zum Mittelmeer – ein Stück näher kommen.[9]
Der Iran würde somit zum ersten Mal in seiner Geschichte über eine direkte Landverbindung zu seinen Verbündeten in Syrien und im Libanon verfügen, die sich über den Irak bis an die Küste des Mittelmeeres (syrische Hafenstadt Latakia) erstreckt. Irans Revolutionswächter und Streitkräfte sowie die mit ihm verbündeten schiitischen Milizen könnten sich fortan frei zwischen Iran, Irak, Syrien und dem Libanon bewegen, was eine schwere Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen Israels darstellen würde. Israels nördliche Grenzen, besonders die Golanhöhen, wären in Gefahr. Die Sorge um Irans wachsende Präsenz in der Nähe Israels ist nicht unbegründet. Im Januar 2015 griff die israelische Luftwaffe einen Fahrzeugkonvoi der Hisbollah an der libanesisch-israelischen Grenze bei den Golanhöhen an und tötete sechs Hisbollah-Kämpfer sowie sechs iranische Militärs. Unter den getöteten Iranern befand sich auch der Brigadegeneral Mohammad Ali Allahdadi.
Die Anwesenheit von hochrangigen iranischen Militärs tausende Kilometer entfernt von den eigenen Grenzen und dicht an Israel lässt alle Befürchtungen hinsichtlich der furchterregenden antiisraelischen Parolen berechtigt erscheinen. Israels Premierminister Netanjahu ist besonders besorgt darüber, dass im erwähnten Abkommen kein Wort über iranische Truppen und die Hisbollah zu lesen ist und dass keineswegs sicher ist, dass diese sich aus den Deeskalationsgebieten zurückziehen würden.[11] Israelische Minister drücken ihr Unbehagen aus und zweifeln allmählich an Trumps anfangs lautstark verlautbarter Entschlossenheit gegenüber Iran. Hochrangige israelische Regierungsmitglieder bezeichnen den amerikanisch-russischen Deal über Syrien als strategischen Fehlschlag. Ein Minister, der nicht genannt werden möchte, sagte Al-Monitor: „Die Vereinigten Staaten haben uns das zweite Mal hintereinander überfahren. Das erste Mal war das Nuklearabkommen mit dem Iran; jetzt, beim zweiten Mal, ignorieren die Vereinigten Staaten die Tatsache, dass der Iran ein zusammenhängendes Gebiet zum Mittelmeer und Israels Nordgrenze gewinnt. Was höchst beunruhigend ist, dass es diesmal Präsident Trump war, der uns den Löwen vorwirft – obwohl er für einen großen Freund Israels gehalten wird. Man sieht, dass er nicht liefert, wenn es auf Taten und nicht bloß auf Worte ankommt.“[12]
Weite Teile der Deeskalationszonen stehen unter russischer Obhut. Israels Premier ließ keinen Zweifel daran: „Iran muss Syrien verlassen oder Israel wird handeln.“[13] Iran denkt jedoch nicht daran, sich aus Syrien zurückzuziehen. Netanjahu hat auch mit der Bombardierung von Assads Amtssitz gedroht.[14]
Bei allen Befürchtungen gegenüber dem Iran und dessen Dämonisierung muss ins Gedächtnis gerufen werden, dass die US-Administrationen durch eine Kette von Fehlentscheidungen immens zum regionalen Aufstieg der Mullahs selber beigetragen haben. Im Westen und Osten des Iran regierten Ende der 1990er Jahre Saddam Hussein und die Taliban, welche die iranischen Ambitionen bremsten. Ohne das durch den Sturz Saddam Husseins (2003) im Irak entstandene Chaos hätte der IS nicht entstehen können; und seine Ausweitung ab 2011 wäre ohne den amerikanischen Truppenabzug, der den Irak einem ungefestigten Regime überließ, nur schwer möglich gewesen.
Die Bush-Kriege in Irak und Afghanistan brachten zwar die dortigen Diktaturen zu Fall, haben jedoch zugleich Irans Einflusssphäre erheblich erweitert. Präsident Obama schloss zwar das wichtige und richtige Nuklearabkommen mit dem Iran, doch hat er Iran freie Bahn zur Intensivierung seiner regionalen Einmischungen gewährt, um den Nuklear-Deal nicht zu gefährden. Irans Verhalten nach innen wie außen hat sich jedoch nicht spürbar verändert. Das Land steht seit 2015 (das Jahr des Nuklearabkommens!) an der Spitze der Liste jener Staaten, die Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung betreiben, wie die internationale Organisation FATF („Financial Action Task Force on Money Laundering“) berichtet.[15] Die Trump-Administration stellt mit ihrer neuen Iranpolitik, die auf „friedlichen regime change“ mittels US-amerikanischer Unterstützung von „Elementen innerhalb des Iran“ setzt[16] und Obamas Iranpolitik völlig entgegengesetzt ist, eine echte Herausforderung für Teheran dar – wenngleich Benjamin Netanjahu gerade in Bezug auf das Südsyrien-Abkommen unzufrieden ist. Beobachter der nahöstlichen Szene wissen: Wenn Israel seine Existenz bedroht sieht, wird es angreifen, notfalls auch ohne die USA. Und diese werden sodann zusammen mit den Briten, die seit 2001 jeden Feldzug Washingtons im Nahen und Mittleren Osten mitgemacht haben, in den Krieg hineingerissen werden.
Auch nach dem vorläufigen Sieg über den Islamischen Staat ist also keine Entspannung im Nahen Osten in Sicht. Alte Rivalitäten zwischen den regionalen Akteuren werden wieder an Bedeutung gewinnen.
Dr. Behrouz Khosrozadeh ist Lehrbeauftrager am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Kissinger, Henry: Chaos and order in a changing world, in: CapX, 02.08.2017, URL: https://capx.co/chaos-and-order-in-a-changing-world/ [eingesehen am 30.08.2017].
[2] Vgl. etwa Kaspar, M.: Endloses Blutvergießen in Syrien. Interview mit Behrouz Khosrozadeh, in: Göttinger Tageblatt, 20.07.2013 sowie Behrouz Khosrozadehs Ausführungen in: Bertelsmann Stiftung: BTI 2016 – Iran Country Report, Gütersloh 2016, S. 33 f.
[3] Vgl. Sly, Liz: Petraeus: The Islamic State isn’t our biggest problem in Iraq, in: Washington Post, 20.03.2015, URL: https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/03/20/petraeus-the-islamic-state-isnt-our-biggest-problem-in-iraq/?utm_term=.c9f97d4b6a00 [eingesehen am 30.08.2017].
[4] Petraeus, zit. nach ebd. [eigene Übersetzung des Autors].
[5] Vgl. Majidyar, Ahmad: Iranian Support for Taliban Alarms Afghan Officials, in: The Middle East Institute, 09.01.2017, URL: https://www.mei.edu/content/io/iranian-support-taliban-alarms-afghan-officials [eingesehen am 06.09.2017]; vgl. auch Gall, Carlotta: In Afghanistan, U.S. Exits, and Iran Comes In, in: The New York Times, 05.08.2017, URL: https://www.nytimes.com/2017/08/05/world/asia/iran-afghanistan-taliban.html [eingesehen am 06.09.2017].
[6] Siehe Yaron, Gil: Der schiitische Halbmond wird rund. Und der Westen verliert seine ehemaligen Verbündeten, in: IP – Die Zeitschrift (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.), März/April 2011, S. 38, URL: https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/article/getFullPDF/17637 [eingesehen am 14.09.2017].
[7] Vgl. Majidyar, Ahmad: Iran Recruits and Trains Large Numbers of Afghan and Pakistani Shiites, in: Middle East Institute, 18.01.2017, URL: https://www.mei.edu/content/article/io/iran-s-recruitment-afghan-pakistani-shiites-further-destabilizes-south-asia [eingesehen am 04.09.2017].
[8] Vgl. Ravid, Barak: Netanyahu: Israel Opposes Cease-fire Deal Reached by U.S. and Russia in Southern Syria, in: Haaretz, 16.07.2017, URL: http://www.haaretz.com/israel-news/1.801612 [eingesehen am 12.09.2017].
[9] Vgl. Chulov, Martin: Iran changes course of road to Mediterranean coast to avoid US forces, in: The Guardian, 16.05.2017, URL: https://www.theguardian.com/world/2017/may/16/iran-changes-course-of-road-to-mediterranean-coast-to-avoid-us-forces [eingesehen am 04.09.2017].
[10] Quelle: Guardian, Mai 2017.
[12] Vgl. Caspit, Ben: Has US sacrificed Israel for Syria deal?, in: Al-Monitor, 14.08.2017, URL: http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/israel-iran-us-russia-syria-lebanon-hezbollah-netanyahu.html [eingesehen am 14.09.2017].
[13] Pinchuk, Denis: Netanyahu to Putin: Israel may act to curb Iran’s clout in Syria, in: Reuters, 23.08.2017, URL: https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-russia-israel/netanyahu-to-putin-israel-may-act-to-curb-irans-clout-in-syria-idUSKCN1B30JS; vgl. auch Wootliff, Raoul: Netanyahu to Putin: Israel will act if needed against Iran in Syria, in: Times of Israel, 23.08.2017, URL: http://www.timesofisrael.com/netanyahu-to-putin-israel-willing-to-act-against-iran-in-syria/ [beide eingesehen am 14.09.2017].
[14] Siehe Waage, John: Israel: We’ll Bomb Assad’s Palace if Iran Expands in Syria, in: CBN News, 28.08.2017, URL: http://www1.cbn.com/cbnnews/israel/2017/august/israel-well-bomb-assads-palace-if-iran-expands-in-syria [eingesehen am 14.09.2017].
[15] Vgl. Basel Institute on Governance: Basel AML Index 2017 Report, 16.08.2017, URL: https://index.baselgovernance.org/sites/index/documents/Basel_AML_Index_Report_2017.pdf; Ders.: Basel AML Index 2016 Report, 27.07.2016, URL: https://index.baselgovernance.org/sites/index/documents/Basel_AML_Index_Report_2016.pdf; Ders.: Basel AML Index 2015 Report, 18.08.2015, URL: https://www.baselgovernance.org/sites/collective.localhost/files/documents/basel_aml_index_2015_media_release_final.pdf [alle eingesehen am 05.09.2017].
[16] Pelofsky, Eric: Tillerson Lets Slip He Wants Regime Change in Iran, in: Newsweek, 27.06.2017 [eigene Übersetzung des Autors].