Franҫois Mitterrand – „Gott in Frankreich“

Beitrag verfasst von: Anne-Kathrin Meinhardt

[analysiert]: Anne-Kathrin Meinhardt zum 100. Geburtstag über den ehemaligen französischen Präsidenten Franҫois Mitterrand.

Er wollte „das Urteil über ihn keinem Historiker oder Politiker, keiner Nachwelt, eigentlich auch nicht dem französischen Volk überlassen […], sondern nur sich selbst, Gott in Frankreich“[1]. Heute, am 26. Oktober 2016, wäre François Mitterrand, der französische Staatspräsident von 1981 bis 1995, 100 Jahre alt geworden. Mitterrand hat Frankreich, aber auch Europa geprägt. Aus diesem Anlass – und entgegen seinem Plan – soll ein Blick auf Mitterrands Karriere geworfen werden, um einige Besonderheiten dieses Ausnahmepolitikers herauszuarbeiten.

Im Jahr 1964 hatte Mitterrand die Präsidentschaft Charles de Gaulles noch als „Coup d’Etat permanent“ („dauernder Staatsstreich“) bezeichnet. Aber er selbst übte dieses höchste politische Amt Frankreichs zwei Legislaturperioden, also 14 Jahre, lang aus – und prägte damit dessen heutige Form als wichtigstes französisches Staatsamt entscheidend mit. 1981 gewann er die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen gegen Valéry Giscard d’Estaing und zog damit als erster sozialistischer Präsident in der fünften Republik in den Élysée-Palast ein. Bei seiner Wiederwahl im Jahr 1988 setzte sich Mitterrand dann gegen Jacques Chirac durch; erst 1995 schied er, schwer erkrankt, aus dem Amt aus.[2]

Mitterrand kam aus einer katholisch-bürgerlichen Großfamilie vom Land, in der er zusammen mit seinen sieben Geschwistern von der Mutter unterrichtet wurde.[3] Seine berufliche Karriere hatte mit einem Jura-Studium und einem Studium an der Elite-Universität für Politikwissenschaft, Sciences Po, in Paris begonnen – lange bevor sich Mitterrand nach dem Zweiten Weltkrieg für den Beruf des Politikers entschied. Während des Krieges war François Mitterrand zunächst inhaftiert, schloss sich dann kurze Zeit dem Vichy-Regime an, bevor er schließlich Teil der résistance wurde.[4] In der Nachkriegspolitik war er dann am (Wieder-)Aufbau der politischen Linken in Frankreich beteiligt, war Mitglied elf verschiedener Regierungen und schließlich Vorsitzender einer kleinen links ausgerichteten Partei. Zu dieser Zeit galt er als „politische Allzweckwaffe“[5], da er bis auf das des Premierministers sämtliche Ämter innegehabt hatte. Aufgrund seiner langen politischen Karriere vor dem Kampf um den Élysée-Palast verlief Mitterrands Werdegang also bottom-to-top – wobei er sich sowohl innerhalb der Linken als auch in öffentlichen Ämtern sukzessive nach oben arbeitete.

Seine Charaktereigenschaften – darunter „Zynismus, Eiseskälte und Arroganz“[6] – halfen ihm, den langen Weg bis an die Staatsspitze zu gehen – und dort auch zu bleiben. „Der Hang zur Macht und der eiserne Wille, das zu vollenden, was er begonnen hatte, ließen den Staatspräsidenten niemals daran denken, sein Amt vorzeitig aufzugeben.“[7] So kam es, dass François Mitterrand trotz Prostatakrebs, der ihn mehr als zehn Jahre lang begleitete, seine zweite Amtszeit regulär beendete und bis ein Jahr vor seinem Tod im Präsidentenamt blieb. Dieses Verhalten ist – vor allem heute, in einer Zeit, in der Politiker über eine Karriere nach der Politik nachdenken – nur noch selten zu beobachten: die völlige Aufopferung für den Beruf, bis zum Schluss.

Politisch prägte Mitterrand den europäischen Integrationsprozess, der mit der deutschen Wiedervereinigung verbunden war. Schon seit frühen Jahren wollte sich François Mitterrand als „Europäer der ersten Stunde“[8] verstanden wissen – eine in der französischen Elite nicht unbedingt weitverbreitete Grundhaltung. Nach anfänglicher Zurückhaltung lag der Schwerpunkt seiner Amtszeit auf der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik, sodass Frankreich unter Mitterrands Führung zu einem wesentlich aktiveren und verlässlicheren EU-Mitglied wurde als zuvor. Mitterrands Ziel war, Frankreich als international starken Staat in das nächste Jahrhundert zu führen. Dabei sollte das Land auch eine herausragende Stellung in Europa einnehmen. „Schließlich brachte er auch das Konzept eines Europas der ‚géométrie variable‘, bzw. eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten – ‚à plusieurs vitesses‘ – zur Sprache, das eine Antwort auf die Herausforderungen mangelnder Integrationsbereitschaft einiger oder mangelnder Integrationsfähigkeit anderer sein könnte.“[9]

Keineswegs handelte Mitterrand dabei allerdings in einem rein europäischen Interesse; sondern er nutzte diese politische Ebene, um Frankreich (geo-)politische und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen.[10] Im Dienste dieses höheren Ziels war er im Laufe der Jahre sogar bereit, die französische Unabhängigkeit zurückzustellen – ein gewaltiger Schritt für die Politik in unserem Nachbarland.

Dass er das Urteil über ihn keinem anderen außer sich selbst überlassen wollte, wurde insbesondere kurz vor seinem Tod deutlich: Mitterrands Krebsleiden wurde erst 1992 bekannt, als es ihm nach bereits langjähriger Erkrankung zu schlecht ging, um es weiterhin vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Trotz der Öffnung gegenüber der Gesellschaft beließ er es bei einer Halbwahrheit: Zwar berichtete er von seiner Erkrankung, aber nicht, dass er darunter schon seit vielen Jahren litt.[11] Transparenz gehörte ohnehin nicht zu Mitterrands Stärken: Neben der Ehe mit seiner Frau Danielle, mit der er drei Söhne hatte, unterhielt er über Jahrzehnte eine Liebesbeziehung zu Anne Pingeot, aus der die Tochter Mazarine hervorging. Dies verheimlichte er bis zum Schluss – und lüftete das Geheimnis schließlich selbst. Erst kürzlich wurden die Liebesbriefe zwischen Mitterrand und Pingeot veröffentlicht – ein Bestseller.[12]

Die lange und mit dem Einzug in den Élysée-Palast auch sehr erfolgreiche politische Karriere Mitterrands war ganz offensichtlich von zahlreichen Besonderheiten geprägt, die maßgeblich von seinen Persönlichkeitsmerkmalen und der Art seines Politikmachens beeinflusst waren: So trug Mitterrand nicht nur dazu bei, der französischen Linken nach Jahren des Gaullismus den Weg in den Élysée-Palast zu öffnen, sondern entwickelte darüber hinaus Frankreichs Rolle in Europa und damit die europäische Integration weiter. Ohne Zweifel wurde er damit zu einem bedeutenden europäischen Staatsmann – dessen menschliche Seite erst Stück für Stück zum Vorschein kam.

Schon allein deswegen lohnt sich auch heute der Blick zurück.

Anne-Kathrin Meinhardt ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Kellmann, Klaus: Die Ära Mitterrand. Eine Bilanz, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 26 (1995), H. 3, S. 447-470, hier S. 467.

[2] Vgl. Hermann, Jürgen: Frankreich – Die zweite Amtszeit Mitterrands, Sankt Augustin 1995, S. 11, S. 19 u. S. 142.

[3] Vgl. Védrine, Hubert: 1916–1934: L’enfance en Charente, in: Institut Franҫois Mitterrand, URL: http://www.mitterrand.org/1916-1934-L-enfance-en-Charente.html [eingesehen am 17.10.2016].

[4] Vgl. Védrine, Hubert: 1939–1945: Pendant la seconde guerre mondiale, in: Institut Franҫois Mitterrand, URL: http://www.mitterrand.org/1939-1945-Pendant-la-seconde.html [eingesehen am 17.10.2016].

[5] Lappenküper, Ulrich: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 347.

[6] Kellmann 1995, S. 469.

[7] Praus, Angelika: Frankreich und die Zeitenwende der Jahre 1989/90 – Das Ende der „exception française“, Marburg 2014, S. 372.

[8] Bender, Karl-Heinz: Von der Erbfeindschaft zum Eurocorps 1938–1995, in: Sauzay, Brigitte/Thadden, Rudolf v. (Hrsg.): Mitterrand und die Deutschen, Göttingen 1998, S. 62-77, hier S. 67.

[9] Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela: Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004, S. 68 f.

[10] Vgl. Praus 2014, S. 124.

[11] Vgl. ebd., S. 372.

[12] Siehe Truckendanner, Petra: „Du warst das Glück meines Lebens“, in: Spiegel Online, 09.10.2016, URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/fran-ois-mitterrand-briefe-an-geliebte-anne-pingeot-kommen-als-buch-heraus-a-1115823.html [eingesehen am 17.10.2016].