Mehr Ungleichheit durch mehr Partizipationsmöglichkeiten?

Beitrag verfasst von: Carsten Koschmieder, Mario Datts

[Gastbeitrag]: Carsten Koschmieder und Mario Datts über die soziale Zusammensetzung der Bundesmitgliederversammlungen der Piratenpartei

Anders als bei anderen deutschen Parteien werden bei den Piraten Bundesparteitage als offene Mitgliederversammlungen durchgeführt. Jedes Parteimitglied kann an einem solchen Parteitag teilnehmen und dort zum Beispiel sprechen, Anträge einbringen, über Anträge abstimmen oder Vorstandsämter wählen. Dass alle Piraten berechtigt sind, zu einem solchen Parteitag anzureisen, heißt natürlich nicht, dass auch alle Parteimitglieder diese Möglichkeit tatsächlich wahrnehmen. Vielmehr lassen Erkenntnisse aus der Partizipationsforschung vermuten, dass bestimmte soziale Gruppen das Partizipationsangebot stärker nutzen als andere. Diese These soll im Folgenden anhand der Ergebnisse einer Umfrage, die die Autoren auf dem Bundesparteitag in Halle im Sommer 2014 durchgeführt haben, überprüft werden.

Zunächst einige Rahmendaten: Beim Parteitag waren 1.059 Menschen akkreditiert. Nimmt man die damalige Mitgliederzahl (27.510) als Grundlage, wären dies weniger als vier Prozent der Abstimmungsberechtigten gewesen. Zieht man nur die Anzahl der zu dieser Zeit stimmberechtigten Mitglieder (8.674), so läge die Beteiligungsquote bei 12,2 Prozent.[1] Die Altersstruktur auf dem Bundesparteitag ähnelt jener der Partei. So liegt der Altersdurchschnitt auf dem Bundesparteitag bei vierzig Jahren, in der Partei beträgt er 38,8 Jahre.[2] Eine interessante Randnotiz ist, dass die Teilnehmerinnen insgesamt über sehr hohe formale Bildungsabschlüsse verfügen.

Kinder hindern an Partizipation

Beinahe 78 Prozent der Anwesenden auf dem Bundesparteitag leben in kinderlosen Haushalten. Die wenigen anwesenden Parteimitglieder, die in einem Haushalt mit Kindern leben, haben zumeist einen Partner. Weniger als vier Prozent gaben an, alleinerziehend zu sein. Berücksichtigt man die Altersstruktur der Anwesenden, so wird deutlich: Im Vergleich zur Gesamtgesellschaft sind Menschen mit Kindern deutlich unterrepräsentiert. Möglich erscheint, dass insbesondere Alleinerziehende aufgrund der zeitlichen Belastung bereits auf der Ebene der Parteimitgliedschaft unterrepräsentiert sind und dies nicht mit dem Instrument der Mitgliederversammlung zusammenhängt.

Allerdings zeigen die Ergebnisse der Umfrage deutlich, dass Menschen, die mit mindestens einem Kind im Haushalt leben, unter sonst gleichen Bedingungen signifikant seltener am vorangegangenen Bundesparteitag teilgenommen hatten – und das unabhängig davon, ob sie alleinerziehend sind. Zudem steht das Merkmal Kind in einer systematischen positiven Beziehung mit der Zustimmung zu der Aussage, dass die Teilnahme am Bundesparteitag zu wenig Zeit für Freunde und Familie lasse. Bei den alleinerziehenden Parteimitgliedern kommt verschärfend ein signifikant positiver Zusammenhang mit der Aussage hinzu, dass die Teilnahme am Bundesparteitag nach einer langen Arbeitswoche ermüdend sei.

In der Gesamtschau lässt sich festhalten, dass Menschen mit Kindern unter sonst gleichen Bedingungen wesentlich weniger wahrscheinlich zu Bundesmitgliederversammlungen erscheinen als kinderlose Mitglieder. Dies ist die erste Ungleichheit, die durch das Prinzip der Mitgliederversammlung unter den Parteimitgliedern entsteht.

Männer dominieren

Siebzig Prozent der Teilnehmerinnen definieren sich in der Umfrage als Männer und 26 Prozent als Frauen. Es nahmen also deutlich mehr Männer als Frauen teil. Allerdings sind Frauen in der Piratenpartei auch insgesamt unterrepräsentiert.[3] Diese Ungleichheit wird also nicht durch das Instrumentarium der Mitgliederversammlung erzeugt, jedoch scheint es auch keine entschärfende Wirkung zu entfalten. Vielmehr spiegeln Mitgliederversammlungen den ohnehin vorhandenen Geschlechterbias in der Partei schlicht wider. Verschärfend kommt ein positiver Zusammenhang zwischen dem Merkmal Mann und dem politischen Selbstvertrauen hinzu. Die zweite Ungleichheit ist also die Dominanz männlicher Parteimitglieder auf Bundesmitgliederversammlungen.

Von weit her kommen hauptsächlich die (Zeit-)Reichen

In puncto Anreise zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen längerer Anfahrtsdauer und steigender Zustimmung zu der Aussage, dass die Teilnahme finanziell herausfordernd sei. Dasselbe gilt für die Aussage, dass die Teilnahme das Parteimitglied vor zeitliche Herausforderungen stelle. Daraus kann geschlossen werden, dass Menschen mit geringem zeitlichen und ökonomischen Kapital weniger wahrscheinlich an Mitgliederversammlungen teilnehmen, die in größerer Entfernung vom eigenen Wohnort stattfinden.

Diese These wird dadurch gestützt, dass diejenigen Parteimitglieder, die eine längere Anfahrt nach Halle auf sich genommen hatten, über ein höheres Monatseinkommen und eine disponibleres Zeitbudget verfügen. Wenig überraschend sind jene Landesverbände, in deren Nähe die Bundesmitgliederversammlung in Halle stattgefunden hat, deutlich überrepräsentiert. Die dritte Ungleichheit besteht also darin, dass häufiger diejenigen partizipieren, die weniger Zeit und Geld benötigen, um zum Veranstaltungsort zu gelangen, oder die, die mehr Zeit und Geld zur Verfügung haben.

Herkunft nach Landesverband

Landesverband Entfernung zwischen Bundesland (Mitte) und Halle Akkreditierte Stimm-berechtigte Quote Anwesende
Sachsen 104 km 77 235 32,77
Sachsen-Anhalt 63,3km 39 160 24,38
Brandenburg 137 km 43 163 26,38
Thüringen 135 km 39 153 25,49
Berlin 177 km 129 618 20,87
Bremen 332 km 9 44 20,45
Niedersachsen 250 km 107 687 15,57
Bayern 360 km 159 1097 14,49
Hamburg 355 km 22 175 12,57
Mecklenburg-Vorpommern 304 km 11 103 10,68
Schleswig-Holstein 444 km 28 266 10,53
Nordrhein-Westfalen 367 km 201 2256 8,91
Baden-Württemberg 496 km 69 783 8,81
Hessen 306 km 90 1182 7,61
Rheinland-Pfalz 513 km 35 646 5,42
Saarland 572 km 1 94 1,06
Gesamt 1059 8674 12,21

 
Quelle: Offizielle Daten der Akkreditierung

Die aktiven Mitglieder sind auch besser vorbereitet

Ausgehend von der Annahme, dass Mitglieder, die sich im Vorfeld auf die Kandidatinnen, die Anträge oder die Vorschläge zur Tagesordnung vorbereitet haben, auf dem Parteitag in höherem Maße partizipieren können, lohnt sich ein genauerer Blick: Nach den Ergebnissen der Umfrage sind die Mitglieder besser vorbereitet, die sich auch sonst in der Partei engagieren, sei es auf Parteitagen, bei der Programmarbeit oder in Online-Diskussionen. Besser vorbereitet ist außerdem, wer unter höherem zeitlichem und finanziellem Aufwand anreist. Daraus folgt: die Aktiven und die, die sich eine weitere Anreise leiten können, jene Gruppen also, die ohnehin auf Parteitagen überrepräsentiert sind, haben sich zusätzlich noch besser vorbereitet und können so die Partizipationsmöglichkeiten besser nutzen. Diese vierte Ungleichheit verstärkt die bisher geschilderten Probleme noch.

Fazit: Mehr Ungleichheit

Dass in der Piratenpartei Bundesparteitage als offene Mitgliederversammlungen ohne Delegierte stattfinden, soll Partizipationsmöglichkeiten bereiten, Machtstrukturen verhindern und so letztlich mehr Demokratie schaffen. Die Ergebnisse unserer Umfrage zeigen jedoch, dass es einen nichtintendierten Effekt der von den Piraten propagierten strukturellen Offenheit gibt: Unterschiedliche soziale Gruppen nehmen diese Partizipationsmöglichkeiten unterschiedlich wahr. Häufiger partizipieren die, die weniger Zeit und Geld benötigen, um zum Veranstaltungsort zu gelangen, sowie die, die mehr Zeit und Geld zur Verfügung haben. Wer Kinder hat, kommt seltener. Sich regelmäßig in der Partei engagierende Piraten kommen auch eher zum Parteitag und sind dort besser vorbereitet, während Mitglieder, die sich nicht regelmäßig engagieren, zudem in besonderem Maße von langen Anfahrtswegen abgeschreckt werden.

Die Schlussfolgerungen, die aus diesen Zahlen zu ziehen sind, hängen vom zugrundeliegenden Demokratiebegriff ab. Betrachtet man schon die Verbesserung der der Möglichkeit zur Beteiligung als eine Verbesserung der Demokratie, so sind diese Ergebnisse bestenfalls eine interessante Fußnote. Sieht man aber die Demokratie nur dann als verbessert an, wenn sich tatsächlich alle sozialen Gruppen innerhalb der Partei in gleicher Weise an den erweiterten Partizipationsmöglichkeiten beteiligen (können), so müssen diese Ergebnisse Anlass zum Nachdenken über Veränderungen sein.

Carsten Koschmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Stammer-Zentrum für empirische politische Soziologie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Autor verschiedener Analysen der Piratenpartei. Mario Datts ist ehemaliger Mitarbeiter des Otto-Stammer-Zentrums und hat jüngst eine Analyse über die Beteiligungsformen der Piratenpartei veröffentlicht.

[1] Diese Zahl ist aber – aus Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann – mit Vorsicht zu genießen.

[2] Die Vergleichsdaten wurden den Autoren freundlicherweise von der Piratenpartei zur Verfügung gestellt.

[3] Eine für die Autoren in ihrer Erhebungsmethodik nicht überprüfbare Umfrage kommt sogar auf einen Männeranteil von fast achtzig Prozent, URL: http://kegelklub.net/blog/allgemein/ergebnisse-der-kegelklub-umfrage-2013/ [eingesehen am 05.01.2015].