Mehr direkte Demokratie wagen

[kommentiert:] Jonas Rugenstein und Michael Lühmann fordern eine Reform der Bundespräsidentenwahl.

Dem „Trauerspiel“ um die Präsidentenwahl folgt nun, glaubt man den gängigen Deutungen des medialen Betriebs, das „Katerfrühstück“ in der Koalition. Und tatsächlich, nicht viele hatten die Wahlverweigerung für Wulff so deutlich kommen sehen. Aber nun ob des Wahlverlaufs Überraschung zu mimen, ist der Schauspielkunst zuviel. Auch wenn im Raumschiff Berlin die Bundespräsidentenwahl bisweilen als Lehrstück der Demokratie gefeiert wird, so war es letztlich ein schon vor Wochen kalkuliertes und absehbares Vorführen parteitaktischer (Un-)Fähigkeiten.

Verständlich, dass der eigentliche Souverän, das Volk, fragt, wer denn nun befähigter ist, den Bundespräsidenten zu küren – zumal laut forsa nun noch 36 Prozent der Bevölkerung hinter der schwarz-gelben Findungskommission für das höchste Amt im Staate stehen. Dies aber kann eine Bundesversammlung, deren Zusammensetzung zum Teil auf Wahlgänge von vor vier Jahren zurückgeht, kaum abbilden. Auf der anderen Seite werden die vermeintlich schnellen Stimmungswechsel in der Bevölkerung gegen eine mögliche Direktwahl des Bundespräsidenten ins Feld geführt.

Nicht erst seit Schumpeter wissen wir von den Zweifeln selbst der Demokratietheorie an den Fähigkeiten des Volkes, sich politisch zu betätigen. Auch wenn das im politischen Berlin so kaum offen formuliert werden würde, so erfüllt etwa der Verweise auf die Ablehnung des Lissabon-Vertrages durch die irische Bevölkerung  den gleichen Zweck. Nun steht bei der Wahl des Bundespräsidenten natürlich nicht so viel auf dem Spiel wie bei der Reform der Verfasstheit der Europäischen Union.

Dafür aber wird der Diskurs über die direkte Demokratie in der Bundesrepublik historisch überschattet. So steht dem Wunsch, politische Entscheidungen auch jenseits des parlamentarischen Gangs der Dinge zu ermöglichen, der reflexhafte  Verweis auf die Erfahrungen der Weimarer Republik entgegen. Der direkt gewählte Reichspräsident Hindenburg scheint auch noch nach einem dreiviertel Jahrhundert die Unzulänglichkeit des Souveräns bei der Direktwahl aus historischer Perspektive nachweisen zu können. Unnötig in der Debatte darauf hinzuweisen, dass die Existenz des „historischen Beweises“ ausgerechnet von Historikern in Gänze bezweifelt wird.

Schließlich, so die argumentative Unterstreichung, haben die Gründungsvätern und –mütter des Grundgesetzes deswegen direktdemokratische Elemente von der Bundespolitik geschieden. Hier, zwischen Weimar und Bonn, liegt der moralische Ort, der eine Direktwahldebatte zu unterbinden vermag.  Es scheint, die Schlüsse, die aus den Weimarer Erfahrungen gezogen worden, besitzen auch in puncto partizipativer Demokratie das Siegel ewiger Gültigkeit. Ein Hinweis, der sonst bei Grundgesetzänderungen, unter Bezugnahme auf veränderte Rahmenbedingungen, immer wieder gern weggewischt wird. Unter diesen oft wiederholten, und gleichzeitig wenig hinterfragten, historischen Argumenten wird die Debatte um mögliche Alternativen indes immer wieder erdrückt.

Dabei wäre es durchaus möglich, zuvorderst bei der Wahl zum Bundespräsidenten, der normativen Forderung nach einem Mehr an partizipativer Demokratie nachzugeben. Eine solche Lösungsmöglichkeit wäre in einem ersten Schritt die Beteiligung des Volkes am Wahlakt. Denkbar wäre etwa eine Bundesversammlung, die sich lediglich zur Hälfte aus Parlamentariern und zur anderen Hälfte aus direkten Volksvertretern, etwa in Form von direkt gewählten Wahlmännern, zusammensetzen würde. Diese könnten, ähnlich den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, im Rahmen einer Bundespräsidentenvorwahl gekürt werden. Dies würde die Kandidatenkür weniger willkürlich machen und zudem die Bevölkerung als direkte Akteurin mit ins Boot der Politik holen.

Der Reiz dieses Modells läge mithin darin, dass eine solche Bundesversammlung Volk und Volksvertreter an einen, zugegeben sehr großen, Tisch brächte. So könnte man gerade bei der Wahl des Staatsoberhauptes Politik und Volk Seit‘ an Seit‘ schreiten lassen. Zwar wird dies bereits heute suggeriert, aber tatsächlich entscheiden bis dato komplizierte, wenig transparente – und nicht zuletzt durch Parteibücher gestützte – Auswahlautomatismen über die Zusammensetzung der Wahlversammlung. Es wäre dies womöglich der goldene Mittelweg zwischen normativer und realistischer Demokratietheorie, ein vorerst partielles Partizipationsverspechen an die Bevölkerung, welches zumindest ein Teil der Demokratieunzufriedenheit auffangen könnte.

Möglich, dass eine solche Wahl des Bundespräsidenten beim Souverän durchfällt, dass die Wahlbeteiligung hier erneut historische Tiefststände erreichen könnte, zumal der Bundespräsident letztlich kaum politische Macht innehat. Möglich aber auch, dass gerade eine derart personalisierte Wahl das Volk elektrisiert, denn hier können in der Tat Kandidaten ins Rennen geschickt werden, die eine Partei selten aus sich heraus hervorbringt. Denn eine personalisierte Wahl vermag auch Komplexität zu reduzieren, genau jene Komplexität, die, folgt man Colin Crouchs Theorem der Postdemokratie, mit verantwortlich ist für jenen scheinbar kaum mehr einzufangenden Rückzug des Bürgers von der Politik. Folgt man zudem den Prämissen der partizipativen Demokratietheorie, wonach durch Teilnahme am politischen Prozess erst das Interesse an Politik geweckt wird, so wäre die Beteiligung an der Wahl des Bundespräsidenten ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Der Reiz einer solchen Reform der Bundesversammlung läge darin den Weg zu einem Mehr an direkter Demokratie aufzeigen zu können. Denn, bewährt sich ein solcher Wahlmodus, ließen sich auch künftig Volksabstimmungen und Bürgerbegehren auf die gleiche Weise in den politischen Willensbildungsprozess einbauen. Und dass die direkte Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen durchaus Mobilisierungseffekte zeitigt, zeigen die wenigen Projekte, die das Versprechen der Partizipation einlösen, etwa der „partizipative Haushalt“ der brasilianischen Stadt Porto Allegre.

Kurzum, ein Wahlverfahren, das Parlament und Volk auf eine Stufe stellen würde, könnte hier mithin eine Brücke bauen. Eine Brücke zwischen empörten Souverän und unverstandenem Repräsentant. Und, auch, eine Brücke zwischen Anhängern der direkten Demokratie und deren Gegnern. Da in einem solchen Modell Politik und Volk im Prinzip gleichberechtigte Veto-player wären, würde eine gegenseitige Kontrolle und Beteiligung erheblich verbessert. Es wäre dies womöglich ein Quantensprung für das politische System der Bundesrepublik, der womöglich einen Ausweg aus der postdemokratischen Depression weisen könnte. Ob aber eine Parteiendemokratie wie die der Bundesrepublik diesen Schritt zu gehen bereit ist, liegt wohl auch daran, inwieweit sie die normativ alarmierenden Szenarien der Demokratietheorie ernst zu nehmen bereit ist.

Jonas Rugenstein und Michael Lühmann sind Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Beide beschäftigen sich derzeit mit demokratietheoretischen Ideen.
Im folgenden Text widerspricht Andreas Wagner dem Standpunkt der Autoren:

Spitzenamt ohne parteipolitische Polarisierung.