„Linsanity“

[analysiert]: Jan Michael Kotowski über kollektive Identitäten in den USA

Seit etwa zwei Wochen sind die USA von einer sehr speziellen Art des Wahnsinns eingenommen: „Linsanity“. Vor kurzem wäre der Profibasketballspieler Jeremy Lin (23) von seinem NBA-Team, den New York Knicks, fast noch gefeuert worden. Er war ein Bankdrücker, scheinbar ohne Zukunft in einem der teuersten und erfolglosesten Teams der Liga. Allerdings spielte seine Mannschaft so miserabel, dass sich ihr Trainer dazu entschloss, ihm eine Chance zu geben. Dem Skript eines schlechten Hollywood-Sportfilms folgend packte Lin die Gelegenheit beim Schopf und begann zu spielen wie ein Superstar. Sein Team gewann neun der nächsten zwölf Spiele und seine Statistiken sind von historischer Qualität. Nun schreibt der amerikanische Sport solche Geschichten mit schöner Regelmäßigkeit, aber diese hat eine besondere sozio-kulturelle Dimension: Lin ist Amerikaner asiatischer Herkunft. Jeremy Lins rasanter Aufstieg ist ein Phänomen, das die amerikanische Öffentlichkeit momentan viel stärker beschäftigt als beispielsweise der nicht enden wollende Vorwahlkampf der Republikaner. Allerdings gibt es auch einige faszinierende Gemeinsamkeiten zwischen der popkulturellen Produktion und Rezeption von Lins vermeintlicher Cinderella-Story und der Wahrnehmung von Parteipolitik und Kandidatenkür in den USA. Einerseits sind die beiden Phänomene nur im Zusammenhang mit einer sehr spezifisch kapitalistischen Medienkultur zu verstehen und andererseits zeigt sich in ihnen auch die Kehrseite des amerikanischen Individualismus, nämlich eine extreme Gruppenbezogenheit innerhalb des nationalen Sozialgefüges, das von einer komplexen Verschachtelung ethnisch-rassischer Kategorien geprägt ist.

Jeremy Lin ist in vielerlei Hinsicht fast eine Karikatur des stereotypischen Asian Americans: aufgewachsen als Sohn taiwanesischer Einwanderer in Palo Alto in der kalifornischen Bay Area (nirgendwo sonst in den kontinentalen USA ist der Anteil von Asiaten an der Gesamtbevölkerung höher), evangelikaler Christ, dazu ein überdurchschnittlicher Schüler mit einem Collegeabschluss in VWL von Harvard (zwar die beste Universität des Landes, aber sportlich gesehen nur Kreisklasse). In diesem Sinne entspricht er voll und ganz der klischeehaften Vorstellung von Asian Americans als eine „Modellminderheit“, die aufgrund ihrer starken Familienbande, Arbeitsethik und ihrem sozialen Aufstiegsdenken viele Kerneigenschaften des amerikanischen Traums verkörpert – und somit implizit den in dieser Hinsicht vermeintlich defizitären Afroamerikanern gegenübergestellt wird.

Diese gruppenbezogene Klassifikation von Amerikanern asiatischer Herkunft ist allerdings nur scheinbar positiv konnotiert, da sie von einem hässlichen Reservoir rassistischer und ethnischer Vorurteile begleitet wird: Dieser Lesart zufolge sind asiatische Männer unmännlich, unsportlich und generell unfähig in Gebieten zu reüssieren, denen die Mehrheitsgesellschaft „Coolness“ oder „Sexappeal “ zuschreibt. In einer Kultur, die Vorbilder traditionell über popkulturelle Kanäle repräsentiert, gab es bisher keinen Raum für asiatisch-amerikanische Helden außerhalb der Klischees von Geeks, Nerds und Karate Kid. Die Begeisterungsstürme, die Jeremy Lins Erfolg nun innerhalb der Asian American community hervorruft, zeigen jedoch, dass ein riesiger Bedarf an asiatischen Helden in den USA besteht. Noch aussagekräftiger und faszinierender – insbesondere für die amerikanische Nation als Ganzes – sind allerdings die medialen Reaktionen auf Lins Erfolg.

Im Englischen reimt sich Lin auf win und der Wahnsinn der „Linsanity“ drückt sich nicht zuletzt in zahllosen Wortspielen aus. Oftmals harmlos, bisweilen sogar wirklich komisch, offenbarten sich in ihnen aber schnell tief sitzende Vorurteile und Ressentiments. Ein Redakteur von Foxsports.com war sich nicht zu schade, in diesem Kontext auf Twitter über die angeblich mangelnde genitale Ausstattung asiatischer Männer zu scherzen. Selbst Branchenführer ESPN.com veröffentlichte eine Schlagzeile über Lin, die das Wort chink (in etwa: „Schlitzi“) enthielt. Es wurde schnell deutlich, dass im Mutterland der politischen Korrektheit ein „Volksrassismus“ gegenüber Asiaten überdauert hat, der gegenüber Afroamerikanern so schon längst nicht mehr möglich ist.

Nun ist die vorherrschende Wahrnehmung von Jeremy Lin in der amerikanischen Öffentlichkeit aber durchaus positiv und nicht explizit rassistisch geprägt. Für viele Amerikaner asiatischer Herkunft ist er ein Symbol für ihre Ankunft im amerikanischen Mainstream und der Großteil der Bevölkerung genießt lediglich eine spannende Version des Außenseitermythos. Seine Religiosität wiederum stellt ihn in eine Linie mit Tim Tebow, dem fundamentalistischen Predigersohn und Quarterback der Denver Broncos. Trotz all dieser Einschränkungen bleibt eines festzuhalten: Der einzige Grund, weshalb Jeremy Lin zu einem wahrhaft nationalen Phänomen geworden ist, über das alle Qualitätsmedien auch außerhalb der Sportseiten berichten, ist seine ethnische Zugehörigkeit. Wäre er weiß oder schwarz, hätte seine Geschichte niemals eine solche Strahlkraft entwickeln können.

Von außen betrachtet erscheinen die USA oftmals noch als ethno-kultureller Schmelztiegel. Die Mythologie des melting pot erweist sich allen Unkenrufen zum Trotz als außerordentlich hartnäckig. Gleiches gilt auch für die Idee von Amerika als Hort des Hyperindividualismus. Tatsächlich ist das Land vielmehr ein Mosaik höchst unterschiedlicher Kollektive und Identitäten. Dies ist freilich auch ein Grundmotiv des Multikulturalismus – eben jener politischen Ordnungsvorstellung, die in Deutschland als naive Toleranzhaltung abgetan wird und darum weithin  als gescheitert gilt. Der entscheidende Punkt ist hier jedoch nicht, dass der Multikulturalismus als politisches Projekt in Amerika erfolgreich ist (dies gilt vielmehr für Kanada), sondern dass die sozio-politische Lebenswirklichkeit in den USA völlig selbstverständlich als gruppenbasiert aufgefasst wird. In diesem Sinne fungiert der Multikulturalismus quasi als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn seine Grundannahmen über ethnische Diversität sind längst politisch institutionalisiert und gesellschaftlich internalisiert worden. Aus dieser Akzeptanz von Gruppenzentriertheit erklärt sich nicht zuletzt die nahezu völlige Abwesenheit des Integrationsbegriffes im amerikanischen Einwanderungsdiskurs.

Dieses Verständnis von groupness findet sich auch in der medialen Vermittlung von Politik und den amerikanischen Sozialwissenschaften wieder. Wahlen in den USA werden primär als ein Ringen um die Zustimmung vermeintlich homogener Gruppen verstanden. Demzufolge gewinnt man die Wahl, wenn es gelingt, den Latino vote zu sichern, und es ist geradezu Allgemeingut zu behaupten, dass Afroamerikaner ausschließlich demokratisch wählen. In der Realität gestaltet sich Politik natürlich viel komplexer, als es uns durch das medial tradierte Zusammenspiel von Demoskopen, Politikanalysten und dem sozio-politischen common sense vermittelt wird. Es ist jedoch exakt dieses spezifische gesellschaftliche Wissen über die ethno-rassische Konstitution des Landes, das ein Phänomen wie Jeremy Lin erst möglich macht.

 

Jan Michael Kotowski ist Dozent an der University of California Santa Cruz. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit der Konstruktion nationaler Identität durch Einwanderungsdiskurse in Deutschland und den USA befasst.