30 Jahre Kohl
[analysiert]: Saskia Richter über Helmut Kohl und die gesellschaftlichen Bedingungen des Jahres 1982.
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 zum Bundeskanzler gewählt wurde, war die deutsche Friedensaktivistin Petra Kelly international bekannter als er.[1] Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, war die Gesellschaft in Bewegung.[2] 1979 hatte das Parlament dem NATO-Doppelbeschluss zugestimmt. Seitdem waren unzählige Bürgerinitiativen entstanden. Hunderttausende demonstrierten. Die Friedensbewegung war die größte Protestbewegung, die sich in der Bundesrepublik bis dahin entwickelt hatte.[3] In den späten 1970er Jahren waren zudem die Umweltbewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Frauenbewegung und die Dritte-Welt-Bewegung stark geworden. Dies war das Milieu, aus dem sich die grüne Partei entwickelte.
Die Grünen gründeten sich 1980 als Anti-Establishment-Partei: Als Bewegung legten sie sich in Wyhl und Brokdorf mit den Betreibern der Atomkraftwerke an. Einige Jahre später organisierten sie Blockaden vor den Militärstationen der NATO. Im Parlament angekommen sprengten sie die Kleiderordnung und das Protokoll: Bärte, Wollpullover, Turnschuhe waren bis dahin nicht zu sehen; Frauen waren nur wenig wahrnehmbar. Die Grünen verteilten die Ressourcen des Bundestages nach ihren eigenen Prinzipien – Rotationsprinzip, Ökofonds und Trennung von Amt und Mandat ließen zunächst eine neue Parteikultur entstehen, die gleich und transparent funktionieren sollte.
Doch vielleicht gerade deshalb: Während ein Teil der Gesellschaft lautstark Partizipation forderte, wählte eine Mehrheit eine schwarz-gelbe Regierung mit einem konservativen Bundeskanzler aus Rheinland-Pfalz. Die Jahre der sozialliberalen Reformen, des von Willy Brandt gewollten „Mehr Demokratie wagen“ waren vorbei. Auch die Jahre des größten wirtschaftlichen Aufschwungs lagen hinter der Bundesrepublik. Der Sozialstaat kam an seine Grenzen, die Arbeitslosigkeit stieg. Für Helmut Kohl war es seine zweite Chance, 1976 war er als Kanzlerkandidat gescheitert. Der CDU-Vorsitzende aus Ludwigshafen, der in Bonn als Provinzpolitiker verschrien war, machte keinen Hehl daraus, dass er im zunehmenden Pazifismus eine Fehlentwicklung sah.
Die konservative Wahl fügte sich ein in einen westlichen Trend: Andries van Agt führte in der zweiten Hälfte der 1970er in den Niederlanden eine christlich-demokratische Parteienföderation an. Margaret Thatcher kam im Mai 1979 im Vereinten Königreich an die Macht. Der Republikaner Ronald Reagan übernahm im Januar 1981 in den USA die Regierungsverantwortung. Gemeinsam stoppten sie politisch die gesellschaftlichen Demokratisierungs- und Emanzipationsprozesse der 1970er Jahre ebenso wie soziale Reformen, die von den Vorgängerregierungen eingeführt worden waren. Möglicherweise wurden die Konservativen gerade wegen der gesellschaftlichen Wirkung der sozialen Bewegungen gewählt. Denn der wählenden Mehrheit war ein Zuviel an Mitbestimmung unheimlich.
Die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre haben auch die Politik im Parlament verändert. In den USA und in Großbritannien, wo die Bewegungen ebenso aktiv waren, ist es für kleinere Parteien aufgrund des Mehrheitswahlrechts nahezu unmöglich, sich parlamentarisch durchzusetzen. Hier müssen die Bewegungen den Weg der NGOs gehen. In Deutschland hingegen zogen die Grünen bereits nach der Bundestagswahl 1983 in den Bundestag. Viele Wähler der Grünen waren bereits von der Militärpolitik Helmut Schmidts abgeschreckt gewesen, die Helmut Kohl dann fortsetzte. So wurde die Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss gleichzeitig zur wichtigen Triebkraft, die den Grünen zum Wahlerfolg verhalf.
Und je konventioneller die Union Politik betrieb, desto stärker verfestigten sich die Strukturen der Grünen. Auch vor dem Bewusstsein der ökonomischen Krise wollten die Grünen Einsparungen in der Sozialpolitik nicht akzeptieren. Der Ausbau der Kernenergie, der von SPD und Union vorangetrieben wurde, war neben der Friedenspolitik das wichtigste Politikfeld der Grünen. So richtete sich die Politik der Alternativen nicht nur gegen die Union, sondern auch gegen die Richtung, die die SPD bereits in den 1970er Jahren eingeschlagen hatte. Ebenso war es mit dem politischen Habitus als bewusste Provokation der Grünen gegenüber dem politischen Establishment.
So kam es um das Jahr 1982, als Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt wurde, zu zwei gegenläufigen Tendenzen: Während im Parlament die Politik der Vorgängerregierung fortgesetzt und in einer neuen schwarz-gelben Konstellation entwickelt wurde, verfestigten sich die Strukturen der sozialen Bewegungen. Die Anhänger einer alternativen Politik wählten die Grünen ein Jahr später in den Bundestag, wo sie von nun an mit neuen Regeln an der parlamentarischen Debatte teilnahmen und die Regierung Kohl direkt konfrontieren konnten. Sicherlich, es war ebenfalls viel Unbehagen dabei. Denn niemand konnte vorhersagen, wie sich das Konglomerat der Alternativen aus kommunistischen, sozialen, ökologischen und libertären Strömungen entwickeln würde.
Die Grünen verkörperten die postmaterialistischen Strömungen der 1970er Jahre. Sie waren der politische Ausdruck derer, die in den Jahren zuvor versuchten, gesellschaftliche Konventionen zu sprengen. Die Grünen entstanden, als das industrielle Wachstum an seine Grenzen gekommen war, und sie zeigten mit dem Finger auf Umweltverschmutzungen und Ausbeutungen von Mensch und Natur. Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Krise war omnipräsent. Das Waldsterben wurde zum Symbol deutscher Angst-Rhetorik. Die Angst und eine gewisse Hilflosigkeit war es auch, die Teile der Bevölkerung auf die Straßen trieben. Zivilgesellschaftliches Engagement wurde zum Ventil politischer Wünsche.
Mit den sozialen Bewegungen und dem Erfolg der Grünen veränderte sich jedoch nicht nur die Zivilgesellschaft. Auch das Dreieinhalb-Parteiensystem und der Dualismus zwischen Regierung und Opposition, der sich in der Bundesrepublik bis dahin entwickelt hatte und in deren Mitte die FDP stand, wurden aus dem Gleichgewicht gebracht. Unter Willy Brandt und Helmut Schmidt war die deutsche Sozialdemokratie aus ihrer Rolle der Oppositionspartei herausgewachsen. Die Grünen zeigten die Möglichkeit einer neuen Politik auf, die gegenüber dem Regierungshandeln Alternativen entwickelte. Dazu waren die Sozialdemokraten nach dem Regierungswechsel von 1982 zunächst nicht in der Lage. Die Grünen profitierten davon.
Als Regierungspartner stellten sich die Grünen bereits in Hessen schnell auf die Seite der SPD. Auf Bundesebene sollte das allerdings noch eine lange Weile auf sich warten lassen; unter Kohl sollte es 16 Jahre dauern, bis die SPD in Deutschland nach der Wiedervereinigung wieder politisch zum Zuge kam.
Dr. Saskia Richter ist Dozentin für Politik an der Universität Hildesheim, einer ihrer Forschungsschwerpunkte sind die Grünen. 2010 hat sie die Biographie „Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly“ veröffentlicht.
[1] Vgl. Schroder, Peter W.: Deutscher Wahlkampf – Star in US-Zeitungen ist Petra Kelly, in: Neue Presse, 04.03.1983.
[2] Vgl. Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 272 und 276.
[3] Vgl. Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011.