[analysiert]: Julia Tiemann über die Situation in Island sechs Jahre nach dem Regierungssturz im Zuge der Weltfinanzkrise.
Verglichen mit anderen Ländern verfügt Island über keine sonderlich ausgeprägte Protesttradition. Einschneidendstes Erlebnis war da schon der eintägige Aufstand vom März 1949 anlässlich Islands NATO-Beitritts. Doch mit dem Zusammenbruch des isländischen Bankensystems im Zuge der internationalen Wirtschaftskrise im Herbst 2008 schwappte eine Protestwelle über das Land, die Regierung wie Zentralbankvorsitz zum Rücktritt zwang und den Anfang machte für weltweite Proteste. Zum sechsjährigen Jubiläum der Anfänge der weltweiten Finanzkrise rekapituliert dieser Blogbeitrag die isländischen Proteste und erklärt, warum es trotz ihres offensichtlichen Erfolgs nicht zu einer langfristigen Gesellschaftsreform kam.
Ab dem Herbst 2008 versammelten sich Protestierende mehrere Monate lang jeden Samstagnachmittag auf dem Austurvöllur, dem Platz vor dem Parlamentsgebäude Alþingi im Herzen der Hauptstadt Reykjavík. Die Fokussierung auf einen urbanen Platz als zentralen Geschehenspunkt war eine neue Form der Protestorganisation, die sich u.a. noch in den Protesten in Ägypten, Spanien und den USA 2011 wiederfinden sollte.[1] Getragen wurden die Proteste von einer bunten Mischung von Aktivisten u.a. aus der schwul-lesbischen Bewegung, Umweltrechtlern, alternativen Ökonomen, Anarchisten und Neo-Marxisten.[2] Die Ziele der Protestierenden waren fest gesteckt. So forderten sie den Rücktritt von Regierung und Zentralbankvorstand ebenso wie die Ansetzung von parlamentarischen Neuwahlen, denn sowohl Regierung wie Zentralbank wurden maßgeblich für die Härte und Plötzlichkeit verantwortlich gemacht, mit der die Krise den Inselstaat im Nordatlantik traf.
Nach den gewaltfreien Protesten mit Kundgebungen und Konzerten der vorangegangenen Monate versammelten sich Demonstranten am 20. Januar 2009, zur Eröffnung des Parlaments nach der Weihnachtspause, Pfannen und Töpfe aneinanderschlagend auf dem Austurvöllur. Es kam zu Gewaltausschreitungen und Auseinandersetzungen mit der Polizei, doch die Demonstranten blieben, entzündeten Lagerfeuer und schlugen weiter ihr Kochgeschirr aneinander. Fünf Tage später trat zunächst der Premierminister Geir Haarde, dann die komplette Regierung zurück. Neuwahlen wurden angesetzt und auch der Vorstand der Zentralbank räumte einige Wochen später seine Posten.
Indem sie innerhalb von vier Monaten ihre drei Hauptziele erreichte, war die Protestbewegung also durchaus erfolgreich. Zudem gelang es, eine neue und effektive Protestform zu etablieren und weite Teile der Öffentlichkeit zu mobilisieren. Durchschnittlich jeder vierte Erwachsene aus dem Großraum Reykjavík hatte teilgenommen und rund 60 Prozent der Gesamtbevölkerung hegten Sympathien für die Protestierenden. Die isländischen Proteste können also durchaus mit den später folgenden, größten Protesten infolge der globalen Krise verglichen werden, wie etwa den Anti-Austeritätsprotesten in Griechenland 2010.[3]
Dennoch kam es hiernach nicht zu langfristigen politischen und gesellschaftlichen Reformen. Der Aufstand schaffte es zwar, die Hegemonie des neoliberalen Staates als leer und bedeutungslos zu entblößen, doch die gegen-hegemonialen Kräfte der aus verschiedenen Gruppen zusammengewürfelten Protestbewegung waren zu schwach, um die zeitlich begrenzte, von gesellschaftlicher Offenheit und Egalität geprägte Übergangsphase der Finanzkrise zu nutzen und die bisher vorherrschende Macht durch eine Alternative zu ersetzen. Nach dem Erreichen der drei Hauptziele, die als Kitt innerhalb der heterogenen Gruppe der Protestierenden fungiert hatten, blieben kaum noch Gemeinsamkeiten, aus denen heraus sich ein alternativer Gesellschaftsentwurf hätte entwickeln lassen können. Der französische Marxist Alain Badiou sieht hier den Hauptunterschied zwischen Aufstand und Revolution, welche stets eine Alternative in sich selbst vorschlüge.[4] Antonio Gramscis bekannte Bemerkung, dass die Krise gerade in der Tatsache bestünde, „dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, bewahrheitete sich hier.[5]
Nun sind die Proteste auf dem Austurvöllur beinahe auf den Tag genau sechs Jahre her. Das Zeitfenster für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen schloss sich ungenutzt. Immerhin bescherten die Proteste linkspolitischen Ideen einen ungeheuren Aufschwung. In der Hauptstadt zogen 2010 mit Jón Gnarr und seiner Besten Partei selbsternannte Anarcho-Surrealisten und damit der personalisierte Protest ins Rathaus ein.[6] Aus den Regierungsneuwahlen ging bereits im April 2009 eine Koalition aus Sozialdemokraten und Linksgrünen siegreich hervor. Doch bereits 2013 führte deren unliebsame Reformpolitik zu einer Machtablösung durch die Unabhängigkeits- und Fortschrittsparteien – gerade den Parteien, die durch ihre korrupte Vetternwirtschaft und tiefgehenden Verbindungen in Führungsetagen von Finanz-, Industrie- und Medienwirtschaft maßgeblich zur Finanzkrise beigetragen hatten. Indes verstaubt der Entwurf einer neuen Verfassung, international euphorisch als erstes durch Crowdsourcing entstandenes Grundordnungsdokument beachtet, in irgendeiner Amtsschublade. Vom in der Wahl versprochenen privaten Schuldenerlass und einer Volksabstimmung über einen möglichen EU-Beitritt fehlt ebenso jede Spur. Nicht so aber von neuen, überdimensionierten Luxushotels, dem Ausverkauf der Natur an ausländische Großindustrielle und wieder gelockerten Finanzgesetzen. Für viele Isländer fühlt es sich deshalb im Herbst 2014 erneut wie 2007 an, dem Boom-Jahr vor der Krise, als Island nach dem Willen der politischen und wirtschaftlichen Elite zum Dubai des Nordens werden sollte.[7]
Julia Tiemann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Júlíusson, Árni Daníel und Magnús Sveinn Helgason: The Roots of the Saucepan Revolution in Iceland, Persönlich zur Verfügung gestelltes Manuskript. Erschienen in: Cristina Flesher Fominaya und Laurence Cox (Hg.): Understanding European Movements. New Social Movements, Global Justice Struggles, Anti-Austerity Protests, Routledge, London 2013.
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. Bernburg, Jón Gunnar: Economic Crisis and Popular Protest in Iceland, January 2009: The Role of Perceived Economic Loss and Political Attitudes in Protest Participation and Support. Persönlich zur Verfügung gestelltes Manuskript. Mobilization, 2015 (im Erscheinen).
[4] Vgl. Júlíusson und Helgason.
[5] Gramsci. Antonio: Gefängnishefte 2. In: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Gefängnishefte: kritische Gesamtausgabe, Argument Verlag, Hamburg 1991, S. 354.
[6] Vgl. Tiemann, Julia. Island – ungewöhnliche Reaktionen auf die Krise. Göttinger Institut für Demokratieforschung, 4. Februar 2014, online einsehbar unter https://www.demokratie-goettingen.de/blog/ island-ungewohnliche-reaktionen-auf-die-krise [zuletzt eingesehen am 08.10.2014].
[7] Vgl. persönliches Interview mit Hörður Torfason, Reykjavík 24. Juni 2014.