[präsentiert]: Katharina Rahlf und Matthias Micus über die neue Ausgabe von INDES.
In diesen Tagen erscheint die neue, die zweite Ausgabe von „INDES – Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“. Nachdem wir im Herbst 2011 das erste Heft unseres neuen Periodikums präsentieren konnten, stehen dieses Mal „Parteien und Bürgerwut“ im Zentrum der Analyse. Das Jahr 2011 gilt weithin als das Jahr eines revitalisierten gesellschaftlichen Protests. Was daran ist neu? Welche Substanz besitzt die Zuschreibung vom „Wutbürger“? Haben wir es bei den Kundgebungen und Demonstrationen mit allein temporären Events oder doch mit einem langfristig andauernden Bürgereigensinn zu tun? Und wie verträgt sich das partizipatorische Postulat mit der Idee von Repräsentanz? Lässt sich die Vertrauens- und Zustimmungskrise repräsentativer Institutionen direktdemokratisch auflösen?
Jedenfalls: Kaum ein Schlagwort wurde zur Charakterisierung des Jahres 2011 und seiner vieldeutigen Ereignisse so oft gebraucht wie das der „Krise“. Die Wirtschafts- und Finanz-Krise weitete sich zur Euro-Krise und speziell in Irland, Griechenland sowie Spanien zur Schulden-Krise. In Deutschland entwickelt sich die Vertrauens-Krise der Parteien immer mehr zu einer Bestands-Krise des etablierten Parteiensystems, die von einer fortschreitenden Erweiterung des Parteienspektrums begleitet wird und zuletzt mit den Piraten sogar eine neue, netzpolitische Partei emporkommen ließ. Das Phänomen des „Wutbürgers“, der sich republikweit gegen Infrastrukturprojekte engagiert, zeugt darüber hinaus von einer Verfahrens-Krise bei der Planung und Durchführung innenstädtischer oder landschaftsverändernder Bauvorhaben. Schließlich waren in globaler Perspektive mehrere arabische Staaten im Jahr 2011 Brennpunkte blutiger Regime-Krisen.
Mithin: Allerorten Krisen – doch ist offen, ob es sich dabei um einen vorübergehenden Niedergang oder einen unwiderruflichen Übergang in neue Zustände handelt. Jahrelang ging die Politikwissenschaft – auch in Göttingen – lediglich von episodischen Schwankungen der politischen Vertrauenswerte und des Partizipationsniveaus in konventionellen Beteiligungsformaten, bei Parteibindungen, Volksparteigrößen und Politikerbewertungen aus. Lange Zeit war das plausibel, da die Katastrophen nie so schlimm und die Zäsuren nie so scharf waren, wie das die Berichte aus den Redaktionsstuben der Zeitungen, Radiosendern und Fernsehstationen vermuten ließen. Dagegen sprechen heute in der Tat viele Anzeichen für einen Epochenbruch, für eine fundamentale Transformation, die einen Einschnitt markiert und gängige Annahmen ungültig macht.
Vor diesem Hintergrund inspiziert die neue INDES die Proteste empörter Bürger, die unlängst mit ihrer zivilgesellschaftlichen Rage für so viel Furore gesorgt haben; fragt sie nach den Motiven der Aufständischen und geht den neuen – und sich mitunter als altbekannt entpuppenden – Formen des Widerspruchs nach. Eben diese Frage stellt sich Dieter Rucht – die Frage nach dem qualitativ Neuen in der Formgebung und bei den Stilelementen der aktuellen Proteste. Mit den Gründen der breiten Medienrezeption des Wutbürgers, dessen Auftreten im Jahr 2011 einen regelrechten medialen Hype ausgelöst hat, beschäftigt sich Ulrike Winkelmann. Auffällig war, wie gleichlautend die Protestporträts in deutschen Zeitungen über die Altersstruktur des prototypischen Demonstranten schrieben, den sie als grauhaarigen Mitt-Fünfziger zeichneten. Wie sich die Demonstrationsabstinenz der Jüngeren, in den 1970er und 1980er Jahren Geborenen erklären lässt, das untersucht David Bebnowski in seinem Beitrag.
Nun muss gerade bei einer Analyse der Sozialproteste des Jahres 2011 der Blick auch über den nationalstaatlichen Tellerrand hinaus schweifen und auf internationale Ereignisse gerichtet werden. In relativierender Absicht stellt Thymian Bussemer einen Zusammenhang zwischen dem Bahnhofsprotest in Stuttgart und den Vorgängen in Tunis und Kairo her. Den Empörten der nicht-europäischen Regionen gibt Rainer Wandler eine Stimme.
Franz Walter und Stine Marg analysieren die sozialstrukturellen Differenzen und intentionalen Gemeinsamkeiten des weltweiten Aufbegehrens, wobei ihr Fokus auf den Ländern der Europäischen Union liegt, weshalb sie ein zentrales verbindendes Moment im Grenzen überschreitenden Unbehagen über die simulativ gewordene Demokratie sehen. Bei dem Stichwort des demokratischen Gestaltwandels kommen sofort die Niederlande in den Sinn, ein Land, das bis 2002 als erztolerant, ultraliberal und vielbeschworenes Paradebeispiel innenpolitischen Friedens galt, das seitdem aber von populistischen und anti-islamischen Fieberschüben heftig geschüttelt wird und bei dem insofern – diese These stellen Paul Dekker und Josje den Ridder auf – die Veränderungen bei den Zufriedenheitswerten mit den demokratischen Institutionen besonders markant ausfallen müssten.
Bei aller Ausführlichkeit, mit denen die globalen Proteste betrachtet werden, dürfen auch die klassischen Akteure des politischen Systems nicht unberücksichtigt bleiben. Die Autoren mehrerer Beiträge schauen daher, ob und wie die vermeintlich gestrigen Parteien auf die bürgergesellschaftlichen Herausforderungen reagieren bzw. reagiert haben. Haben sie als Inbegriff des etablierten Systems dem Charme des Unkonventionellen überhaupt etwas entgegenzusetzen? Mit anderen Worten: Welche Erfolgschance besitzen organisationspraktische Fundamentalrevisionen nach Art des in der Gewerkschaftsarbeit entwickelten „Organizing“ namentlich für sozialdemokratische Parteien (Felix Butzlaff)?
Inwieweit schlummern Potenziale zur Revitalisierung von etablierten Parteien einerseits in neuartigen Koalitionsmodellen – Lars Geiges durchleuchtet die Erfolgsbilanzen schwarz-dunkelroter Kommunalallianzen – und andererseits im offensiven Werben um lokalpolitische Aktionspartnerschaften mit Verbänden, Vereinen und Initiativen, d.h. in einer intensivierten Vernetzung mit dem zivilgesellschaftlichen Parteienvorfeld (Oliver D’Antonio)? Welche Prognose lässt sich grosso modo für die bekannten Altparteien erstellen, sind die Mitgliederparteien ein Auslaufmodell (Peter Filzmaier und Ruud Koole) und Parteihochburgen vom Aussterben bedroht (Christian Werwath)? Und gehört dementsprechend die Zukunft stetig wechselnden Neu-Parteien, aktuell also den Piraten (Alexander Hensel)?
Mithin: Auf der Suche nach Antworten haben einige Autoren dieses Heftes eine Inspektionsreise in das Innere der Parteienmilieus unternommen, um genauer zu betrachten, wie viel Leben in den wahlweise als unbewegliche „Tanker“ oder unzeitgemäße „Dinosaurier“ verspotteten Traditionsparteien noch steckt. Denn in Anbetracht des Furors, den das „Protestjahr 2011“ verursachte, all der Aufmerksamkeit, die jene aufsehenerregenden Ereignisse auf sich zogen, gerieten die nach wie vor existierenden Institutionen allzu häufig ins Hintertreffen.
Natürlich fasziniert vor allem das Neue. Und eine Stärke der Zeitschrift INDES ist ihre Fähigkeit, auf spektakuläre Ereignisse zu reagieren und aktuelle Entwicklungen zu integrieren. In seiner Analyse „Burgwedel und Bellevue“ ergründet Franz Walter daher aus Anlass des Rücktrittes von Christian Wulff als Bundespräsident hochaktuell die Bedeutung der politischen Technik des Interessenausgleiches sowie der wechselseitigen Unterstützung im föderalen Mehrparteiensystem der Bundesrepublik und lotet das Anforderungsprofil des Bundespräsidentenamtes für geeignete Kandidaten aus.
Nicht minder wichtig ist aber oftmals auch das, was sich dahinter, mehr im Verborgenen, abseits des großen Spektakels abspielt. Inwieweit sich hinter dem anhaltenden – und insofern mittlerweile journalistisch nicht mehr besonders interessanten – Umfragehoch der Grünen ein langfristiger Wertewandel oder nur eine temporäre Modeerscheinung verbirgt (Michael Lühmann); welche Ortwechsel die grünaffinen Postmateriellen seit den 1980er Jahren in den Kartographien der Milieuforscher von Sinus vollzogen haben (Tamina Christ); und ob die basisdemokratischen Vorlieben vorzugsweise im linken Parteienspektrum umstandslos auch auf eine antiautoritäre Gesinnung schließen lassen (Christoph Ruf, Robert Lorenz und Matthias Micus) – auch damit befasst sich die neue Ausgabe von INDES.
Katharina Rahlf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Chefredakteurin von INDES, Zeitschrift für Politik und Gesellschaft. Matthias Micus ist Akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung und ebenfalls Mitglied der INDES-Redaktion.